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Am 6. Juli 2006 fand in der ifa-Galerie Berlin der IV. Interdisziplinäre
Salon für Europa statt. Das FORUM46 und das Institut für Auslands-
beziehungen luden zum Thema:

BANALITÄT

Wie banal ist das Banale?

 

Die Diskussionsrunde

Prof. Dr. Martin Korte
Neurobiologe, Zoologische Institut der TU Braunschweig

PD Dr. Rainer Maria Kiesow
Rechtswissenschaftler, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main

Dr. Thomas Eggensperger OP
Mitglied des Dominikanerordens, Institut M.-Dominique Chenu, Berlin

Dr. Clemens Goldberg
Cellist, Musikwissenschaftler, Vorsitzender des Stiftungsvorstandes Goldberg Stiftung

 

Moderation

Volker Panzer
ZDF Nachtstudio

 

Leitfragen

Der Künstler wird zum Konsumenten. Wissenschaft zum Event. Schwachsinn zum Kult. Wir plätschern dahin in den Niederungen der Banalität, der Beliebigkeit, der Routine des Alltags. Aus den Europäischen Institutionen erwächst die genormte Gemüsegurke, doch schwindet der Geist. Was ist Banalität? Wie banal ist die Europa-Idee? Wie banal ist das Banale?

 

Publikation zum Thema

Vertiefen Sie das Salonthema anhand von Essays, Reportagen und Tipps
aus unserem Magazin  >>> E.I.Q Banalität

Autoren der Ausgabe sind u.a.:

Timothy Garton Ash, Jens Badura, Veronika Fuest, Georgi Gospodinov, Gerhard Grössing, Rainer
Maria Kiesow, Günter Küppers, Katharina Marszewski, Czeslaw Porebski, Jacob Schilling

 

Vom Recht auf Banalität

von Rainer Maria Kiesow

I.
Es begann am 19. April. An einem Mittwoch. Der Hörsaal Römisch V mit 600 Plätzen war gefüllt. 12 Uhr mittags. Cum tempore. Ich ging rein und stieg auf’s Podium. Nicht das erste Mal. Ich hatte gelesen, manchmal auch vorgelesen: stets im Zusammenhang mit Recht, Gerechtigkeit gar, über Philosophie, Geschichte, Literatur, Kunst, Film. Disziplinär, interdisziplinär, antidisziplinär. Eben als wissenschaftliche Bastardnatur. Immer intellektuell. Natürlich.

Ich hatte Angst. Nicht vor den Studenten. Neunzehneinhalbjährige Jungen und Frauen – keine Ahnung von nichts, voller Glauben an alles, was professiert wird. Aber Angst vor mir. Vor dem, was gleich, wenn es mir denn überhaupt gelänge, aus meinem Mund entfleuchen würde. Privatrecht. Für Wirtschaftswissenschaftler. Die Rechtsfähigkeit beginnt mit der Geburt. § 1 BGB. Geschäftsfähigkeit von Minderjährigen und Geistesgestörten. Vertragsschluß. Angebot und Annahme. Der Viehkauf und seine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung. Nachbars Kirschbaum. Wegerechte, Hypotheken, Geliebtentestamente. Erfüllungspflicht des Verkäufers. Wer trägt die Preisgefahr? Banalitäten!

Das ist drei Monate her. Heute Mittag ging es um Schadenersatzpflichten aus unerlaubter Handlung. § 823 BGB. Angst habe ich keine mehr. Juristische Banalitäten. Fast keiner meiner Studenten wußte die Französische Revolution (als ich sie einmal en passant erwähnte) inhaltlich, zeitlich oder sonst irgendwie einigermaßen einzuordnen. Trotz Milliardengewinnen streichen Großunternehmen Tausende Stellen. Ökonomische Banalitäten. Als die Studenten protestierten hatten, nicht gegen die Allianz aus Deutscher Bank und Volkswagen, sondern gegen Studiengebühren, war ich zur Rechtsnatur der Erfüllung übergegangen. Kaufverträge werden immer geschlossen. Banal.

Kants Rechtsphilosophie, Luhmanns Rechtswelten, Aristoteles’ Gerechtigkeiten, Kafkas Prozesse, die Auseinandersetzung mit Sätzen wie: „Es genügt nicht, Menschenfleisch herzustellen“, habe ich ganz aufgegeben. Vollständig losgelöst von Neugierde, Delikatesse, Außergewöhnlichem, Neuem, Originalität, Ausgesuchtem und Bemerkenswertem bin ich auf die banalste Weise banal geworden.

Die Studenten müssen zu mir kommen. Die Klausur ist das Fallbeil für die Vorlesungsmuffel. Ich stelle die Klausur. Ich habe das Recht auf Banalität. Ich bin der Herr.

II.
Banalität. Ein in Verruf geratenes Wort. Die Banalität der Städte (vor allem der Vorstädte), die Banalität der Kultur (vor allem der amerikanischen), die Banalität des Essens (vor allem des nicht-französischen), die Banalität der Liebe (vor allem der sexbasierten), die Banalität des Bösen (vor allem des deutschen).

Banalität. Das, was im höchsten Grade gewöhnlich, durch häufige Anwendung alltäglich, abgedroschen und bedeutungslos ist. Also eine gewöhnliche, unpersönliche, unbedeutende, ordinäre, arme, platte, triviale, Sache, ohne Originalität. Das Banale stellt sich aller Welt zur Verfügung. Ein banales Herz, ein banaler Zeuge, eine banale Großzügigkeit – Ihre Komplimente sind nur Banalitäten!

Dabei war das Banale einst bedeutend, keineswegs vulgär, wenn auch alltäglich. Am Beginn der Banalität standen die Gewalt der Herren und die Armut der Völker. Erst in der französischen Revolution wurden die Banalitäten abgeschafft, um zu das zu werden, was sie heute sind: das Normale. Also das, was die Intellektuellen perhorreszieren.

III.
Banalität – eine kleine Rechtsgeschichte: Es handelt sich um einen Begriff des Feudalrechts. Im Lehnrecht war die Banalität das Recht des (Lehn)Herrn, seine ihm unterworfenen Vasallen zu verpflichten, bestimmte Sachen kostenpflichtig zu benutzen. Es dreht sich also um den obligatorischen Gebrauch einer Sache in einer Herrschaft. Die Banalität ist ein prohibitives Recht, im Gegensatz zur öffentlichen Freiheit. Der Herr kann seine Untergebenen daran hindern, in anderen Mühlen als seiner eigenen zu mahlen. Das Recht auf Banalität zwingt die Untertanen dazu, das Brot im Ofen des Herrn zu backen, das Korn in der Mühle des Herrn zu mahlen, die Trauben in der Presse des Herrn zu pressen, das Bier in der Brauerei des Herrn zu brauen, die Kühe vom Bullen des Herrn decken zu lassen. Die so genutzten Sachen sind banal: der banale Ofen, die banale Mühle, der banale Bulle. Banal ist also, was allen Bewohnern einer Herrschaft (und später einer Kommune) zur zwangsweisen Verfügung steht. Die Banalität ist auch der Bezirk, in der dieses Recht ausgeübt werden kann. Dieser Distrikt wurde in Frankreich banlieu genannt. Ende des 18. Jahrhunderts war es dann vorbei mit dem droit de banalité. Die Exzeption von 1789 zog für die Kommunen das Verbot nach sich, Banalitäten einzurichten. Und der Begriff des Banalen verabschiedete sich aus der Begriffswelt des Rechts, um sich überall einzurichten. Im 19. Jahrhundert galt schon als banal, wer im Dienst von aller Welt (und nicht nur seines Herrn) steht, einer mithin, der sich jedem unterschiedslos hingibt. Ein banaler Freund oder ein banaler Galan. Ein banales Sentiment. Wer sich an alle Welt richtet, wer aller Welt gehört.

Seitdem das Banale nicht mehr einem Herrn gehört, sondern allen, ist es selbst banal geworden. An die Stelle des exklusiven (Herren)Rechts auf Banalität ist das Erhabene getreten, das nunmehr seit zweihundert Jahren den Gegenbegriff zur alltäglichen Gleichförmigkeit des Allgemeinen, des Banalen also, bildet. Aus einer auf der Differenz Herr/Knecht beruhenden juristischen Dienstbarkeit ist die Differenz zwischen dem Hehren/Wahren/Guten/Schönen und dem Gewöhnlichen/Wiederkehrenden/Serienmäßigen/Massenhaften geworden. Die banalen Fabriken der Moderne stehen gegen die erhabene Klassik der Goethezeit und die erhabenen Nachtträume der Romantik. Phantasie und Poesie gegen die Banalität des Charakters. Internetpornokonsum für alle, Konzeptkunst für keinen. Das Banale ist anspruchslos. Das Erhabene ist exklusiv. Das Recht auf Banalität gehört nicht mehr den Herren. Sie wollen es nicht mehr haben.

Das alte Recht auf Banalität ist nicht mehr, doch die alte Banalität des Rechts ist immer noch. Das hat etwas mit den Menschen, mit dem Leben aller Menschen, zu tun. Diese menschliche Alltäglichkeit gebiert die Alltäglichkeit des Rechts.

IV.
Frau Johannson führte nach dem Besuch einer Vorstellung des Nationaltheaters in Stockholm ihren Gast M. in eine Bibliothek und ließ ihn dort allein. Es war eiskalt, und er blieb die ganze Nacht. Die Räume, die an einen „Keller mit gut sortierten Flaschen alten Weins“ erinnerten, sahen alle „gleich aus und waren untereinander mit engen Gängen verbunden“. Das Licht flackerte. Hinter den Spinnweben, „die sich, wie eine schmutzige, zerrissene Gaze, über die Büchergestelle senkten“, befanden sich die an die Regale gefesselten Bücher. Der „gewaltige Staub“ bezeugte, daß niemand diese Bände bewegte. Wie stumme Sklaven boten sie M. ihre Rücken an. Auf diesen befanden sich Signaturen, für jeden Saal ein Buchstabe des lateinischen Alphabets. Der späte Besucher schlug einen der Bände, die mit M beschriftet waren, auf. Er begann zu lesen. Was er las war die Geschichte seines Vaters Djuro Marko. Dessen ganzes Leben war aufgezeichnet. Nicht nur die wichtigsten, die sogenannten entscheidenden, bestimmenden, Etappen, sondern Alles. Nichts fehlte, „nichts ist weggelassen worden; ... nichts wurde vergessen“. Ein Bad im Fluß, die Feldflasche, der Kuckuck der Wanduhr, die Namen der Kutscher, die Porträts der Lehrer, die guten Ratschläge des Pfarrers, ein Vortrag von Krleža, Anna Eremija, das erste Mal, als er von den Abhängen des Berges Velebit am 28. April 1935 das Meer, das Blau der Adria, sah und auch das zweite Mal, 40 Jahre später. M. befand sich in der „berühmten“ Enzyklopädie der Toten, in der jeder Mensch „ein Stern für sich“ ist. Alles, was hier - in den unendlich vielen Bänden - verzeichnet war, war „bedeutungslos für alle“, außer für diejenigen, die es anging, die vielleicht nach ihrem Vater suchten, einem Freund, der Blumenverkäuferin oder dem Dorfglöckner. Von A bis Z „nur gewöhnliche enzyklopädische Fakten“. Die Einzelheiten, aus denen sich ein ganzes menschliches Leben zusammensetzt, waren zusammengetragen, alles, „was das menschliche Leben ausmacht“. Wenn es sich um ein Leben handelt, gibt es keinen Unterschied zwischen den Toten. Irgendwie lagen die Anfänge der Sammlung um das Jahr 1789 herum. Seitdem hatte „diese seltsame Kaste von Eruditen“ begonnen, überall auf der Welt Biographien und Todesanzeigen zu sammeln und die Ergebnisse, sämtliche Ergebnisse, erschienen sie auch als noch so nichtig und klein, in die Zentrale, nach Stockholm zu übermitteln.

Betritt man heute eine der zahllosen juristischen Bibliotheken, so findet man ohne Ausnahme, was das Juristenherz begehrt. In den Büchern, die in den weitverzweigten Regalsystemen eingeordnet sind, begegnen dem Besucher zu allem, was mit Recht zu tun hat, Einträge. Texte, die vom Aachener Protokoll, der Abänderungsklage, dem Abandon über die Sequesterbestellung zur Herausgabevollstreckung in unbewegliche Sachen bis zur Zwischenwiderklage und dem Zwölftafelgesetz reichen. Jede scheinbar noch so irrelevante Kleinigkeit taucht in den dick- und dünnleibigen Bänden auf. Liest der Besucher dann – etwa um sein juristisches Studium kurz zu unterbrechen – in der „Enzyklopädie der Toten“ von Danilo Kiš, dann wird ihm klar: Die ganzen Banalitäten des menschlichen Lebens, die in der Enzyklopädie der Toten versammelt sind, diese ganzen Fakten, die das menschliche Leben schafft, sind das unendliche Variationsmaterial für das Recht.

V.
Für ein Recht, in dessen Prozessen die Fakten des Alltäglichen verdoppelt werden. Nicht eins zu eins natürlich. Interpretation, Konstruktion und Manifestation der Fakten des Lebens und der Paragraphen des Rechts werden bei der Umwandlung in Fakten des Rechts, also in das, was vor Gericht normative und tatsächliche Geltung erlangen wird, ihre geheimnisvolle Arbeit leisten. Doch es bleibt dabei. „Die Lesbarkeit der Welt“ (Hans Blumenberg), auch der juristischen, geht in der Welt selbst auf. Es ist eine Situation, die bereits Diderot erahnte, als er den Zeitpunkt voraussah, „in dem es fast ebenso schwer sein wird, sich in einer Bibliothek zurechtzufinden wie im Weltall“. Novalis forderte gar: „Alles soll zu Encyclopaedieen gemacht werden“. In dieser Verdoppelung der Welt ist alles gleich wichtig - auch dies ist ein Erbe eines Historismus, dem alle Fakten prinzipiell gleich wert sind. Die Kommunikationen über Recht oder Unrecht sind ein Teil jenes Gesellschaftssystems, das zugleich eine totale Enzyklopädie ist. Wir befinden uns heute alle in einer „Enzyklopädie der Toten“ und der Lebenden, in der jeder - und damit letztlich auch der „bedeutsamere“ - Mensch „ein Stern für sich ist“. Jeder Mensch ein Stern, jedes Geschehen gleich wichtig – das ist die Apotheose des Unterschiedslosen. Nicht feine Unterschiede, sondern keine Unterschiede – das ist die Apotheose des Banalen.

VI.
Das Banale geschieht jetzt. Es hat keine Vergangenheit, es ist nicht der Zukunft zugewandt. Das Banale ist radikale Gegenwart. Die Gegenwart aller. Das Recht ist ebenso gegenwartsbesessen wie das Banale. Nur der Augenblick zählt. Die Vergangenheit des Rechts interessiert Juristen nicht, darf sie nicht interessieren, müssen sie doch jetzt entscheiden. Natürlich gibt es die vergangenen Entscheidungen, die immer wieder hervorgeholt, gelesen, bedacht, interpretiert, vorausgesetzt, zu Grunde gelegt werden. Und natürlich gibt es vor allem das Leben, den Fall, die immer nur vergangenen Tatsachen. Insofern sind die Juristen in der Tat Vergangenheitsarbeiter. Doch all diese Arbeit an der Vergangenheit, den vergangenen Urteilen und den vergangenen Lebenshandlungen, all diese Arbeit geschieht jetzt. Diese juristische Geschäftigkeit ist unhintergehbar stets in die Gegenwart eingeschrieben. Auch die Vergangenheitsarbeiter, die Juristen, die sich mit vergangenen Entscheidungen, vergangenen Akten, einst gegebenen Gesetzen herumschlagen, gerade die Juristen arbeiten immer nur jetzt, und so wird die lebendige und juristische Vergangenheit immer wieder gegenwärtig bearbeitet, verarbeitet, abgearbeitet, ja überhaupt erst erarbeitet. In die Augen springt: Gerade die entscheidungsfreudigen Juristen sind als Arbeiter bei der Herstellung der Fakten, wie beim Herstellen der Normen, Gegenwartsmenschen.

Am Ende gewinnt immer die Jurisprudenz des täglichen Lebens, also das, was jeden Tag in den Gerichten verhandelt und entschieden wird. Es gewinnt die immer fortschreitende Gegenwart. Es gewinnt das, womit sich Juristen beschäftigen. Es gewinnt die furchterregende Unterwelt der Städte und Provinzen, mit all ihren Geschäften, Verbindungen, Eheschließungen, Unterhaltsverpflichtungen, Geschwätzigkeiten, Schlägereien, Fabriken, Liebschaften, Tierkäufen, Genehmigungen, Abtreibungen, Vertretern, Gläubigern, Morden.

VII.
Diese dunklen Tatsachen, diese Einzelheiten einer Welt voller Monstrositäten, dieses alles, was man das menschliche Leben nennt, Schillers „Menschen! Menschen! Falsche, heuchlerische Krokodilsbrut! Ihre Augen sind Wasser! Ihre Herzen sind Erz! Küsse auf die Lippen! Einen Dolch ins Herz!“, diese zutiefst banalen Menschen, andere Kreaturen sind nicht in Sicht, sind der Gegenstand des zutiefst banalen Rechts. Aljoscha Karamasow hört im Kloster, „daß die weltliche Wissenschaft, die zu einer gewaltigen Macht angewachsen ist, alles zergliedert hat …, daß nach der grausamen Analyse der Gelehrten dieser Welt von allem, was früher heilig war, gar nichts übriggeblieben ist. Sie haben in Teile zergliedert, aber das Ganze übersehen“. Die juristischen Gelehrten an der Universität, die Professoren und Rechtswissenschaftler versuchen zwar genau das Gegenteil zu tun. Ihre Systematisierungsversuche sind seit jeher Ausdruck des hohen Geschmacks am Ganzen, am Besonderen, am Erhabenen. Das Ganze sollte gerade nicht zergliedert werden. Ist doch gerade kein Ganzes im Leben. Dieses mußte erst zum Ganzen zusammengesetzt, gegliedert werden. Zu zergliedern war nichts, da das Leben, jeder Augenblick, jedes einzelne Leben ohnehin nur Stückwerk war, immer nur Stückwerk sein und so einem Urteil ausgesetzt sein konnte. Die Gelehrten des Rechts, die sauberen Priester der Rechtseinheit, die reinen Geister der Wissenschaft, die Pléiade der Juristen versuchten abwechselnd enzyklopädisch, doktrinal, universitär Ordnung zu schaffen.

Doch die Zeit, die lebendige Zeit überholte sie immer wieder. Das kapriziöse Reich der Tatsachen blieb ein Unruhestifter. Zu dem Chaos der eigensinnigen Lebensfakten gesellte sich der Eigensinn der einzelnen Richter. Und hier, im Gericht, war und ist das Recht so zergliedert wie das Leben selbst. Hier ist das Recht in seinem Element, täglich und geschwätzig, zu Diensten, diesem und jenem (Herren sind nicht in Sicht), hier ist das Recht alltäglich und banal.

Die Geschichte des Rechts ist die Geschichte der vielen Leben und der vielen Jurisprudenzen. Sie müßte einmal als eine Geschichte über Anarchie erzählt werden. Der Anarchie der Banalitäten. Einer Anarchie, die mit der Unabhängigkeit gesellschaftlicher Fakultäten einher geht, einer Anarchie, deren Theoriegeschichte den Abschnitt „Pierre-Joseph Proudhon bis Niklas Luhmann“ behandeln müßte. Wie entsteht Ordnung aus Unordnung? Das Desaster des Alltäglichen. Die Geschichte des täglich gegebenen Rechts, die Geschichte der täglichen Daten des Rechts – es wäre eine Geschichte jenseits universitärer, wissenschaftlicher Bedeutsamkeiten, es wäre eine banale Geschichte über das täglich gesprochene, täglich und wöchentlich rapportierte, positive Recht. Es wäre eine Geschichte über positive Anarchie.

VIII.
Auf die Richter kommt es an. Die Gerichte haben seit jeher die Macht des Zivilen, des Alltäglichen ausgeübt. Unscheinbar, ja unsichtbar. Das (Zivil)Recht eignet sich kaum als großes erhabenes Theater. Es ist fragmentarisch, widersprüchlich, situativ und fallbezogen. Michel Foucault sprach einmal vom „stillen Funktionieren“ der zivilen Gerichtsbarkeit, die, indem sie unordentlich, zersplittert, zerstückelt, uneinheitlich ist, an ein verschlungenes und wirres Kunstwerk Tinguelys erinnert. In diesem Wirrwar gibt es nicht einmal Irritationen oder Perturbationen, sondern nur Mechanismen des Funktionierens. Die ganzen Rädchen und Teilchen der Maschine scheinen uns zuzulächeln: all diese Sachen, die nicht laufen, führen letztlich dazu, daß es läuft. Ein Spiel der Unordnung. Weder die neuen modernen Gesetzbücher noch die moderne neue Wissenschaft oder Doktrin des Rechts haben dem Malstrom der Urteile Einhalt gebieten können. Die Architektur des Rechts kann nicht zugleich eine Mechanik der Ordnung sein. Banalitäten lassen sich nicht einfangen und regeln.

IX.
Am Dienstag, dem 11. Juli, werde ich wieder lesen. Die deutschen Fahnen werden eingerollt sein, und ich werde die Haftung von Verrichtungsgehilfen behandeln. § 831 BGB. Banale Fragen. Banale Antworten. Nichts weiter als Privatrecht. Und wenn einer auf die Idee kommen sollte, nach Ideen zu fragen?

Ach, es gibt nichts Schlimmeres als Eingefallenes, Neues, Geniales, Kreatives, Sublimes, Hypsotisches, es gibt nichts Schlimmeres als Ideen. Louis-Ferdinand Céline sagte in seinen „Entretiens avec le Professeur Y“: „Ich habe keine Ideen! keine einzige! und ich finde nichts vulgärer, gewöhnlicher, widerlicher als Ideen! die Bibliotheken sind voll davon! und die Kaffeeterrassen! [...] und die Philosophen! ... das ist ihre Industrie, die Ideen [...] die Synthesen! und die zerebralen Mutationen!“.

Also keine Ideen. Sondern Leben. Das Recht auf stinknormales Leben. Das Recht auf Banalität.

DER AUTOR
PD Dr. Rainer Maria Kiesow ist Mitarbeiter am Max-Planck- Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt und unterrichtet Neuere Rechtsgeschichte, Rechtstheorie und Rechtsphilosophie an der Universität Frankfurt. Mitglied des FORUM46 Beirates.

 

 

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