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XVII. Interdisziplinärer Salon am 05. April 2011 im Automobil Forum Unter den Linden, Volkswagen Aktiengesellschaft in Berlin mit freundlicher Unterstützung der Identity Foundation

 

INTUITION

 

Die Diskussionsrunde

Erika Hoffmann
Sammlung Hoffmann

Dr. Wolfgang Gaissmaier
Harding Zentrum für Risikoforschung
am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin

Prof. Dr. Henning Plessner
Institut für Sport und Sportwissenschaft
der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Dr. Andreas Zeuch
Berater für unternehmerisches Entscheidungsdesign

Moderation

Tiemo Ehmke, FORUM46
Interdisziplinäres Forum für Europa e.V.

Leitfragen

Lassen sich Erkenntnisse aus der "Intuitionsforschung" auf Entscheidungen von Managern übertragen? Können wir Intuition gezielt einsetzen? Wann sollte der Mensch seiner Intuition vertrauen? Wie erkennen wir, ob uns unsere Intuition den "richtigen Rat" erteilt?



KOMPLEXITÄT, RISIKO UND INTUITIVE ENTSCHEIDUNG

Das Bauchgefühl im unternehmerischen Handeln

von Andreas Zeuch

Szenarien

Sie stehen vor einer wichtigen Investitionsentscheidung für Ihr Unternehmen. Wenn Sie alle Faktoren rational analysieren und mit Investitionscontrolling überprüfen, hat das Vorteile: Sie haben hinterher Argumente für oder wider die Investition. Ob das allerdings zum gewünschten Erfolg führt ist fraglich. Außerdem hat dieses Vorgehen einen erheblichen Nachteil: Sie verlieren wertvolle Zeit. Eine intuitive Entscheidung ist deutlich schneller. Allerdings stehen Sie mit leeren Händen da, wenn es eine Fehlentscheidung war. Da sie nicht begründen können, was zu Ihrer Entscheidung geführt hat, laufen Sie Gefahr, in ihren unternehmerischen Entscheidungen unprofessionell und willkürlich zu wirken. Was würden Sie tun?

Sie suchen eine neue Assistentin. Die Stellenausschreibung führte zu einer Vielzahl an Bewerbungsschreiben, die Sie persönlich gesichtet haben. Am Ende blieben 6 Bewerberinnen, die Sie zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Eine der Bewerberinnen fiel Ihnen bereits mit ihrer schriftlichen Bewerbung auf: Sie hatte vorzügliche Zeugnisse und die pfiffigste Bewerbungsmappe. Nach dem persönlichen Gespräch wurden Sie allerdings das Gefühl nicht los, dass sie irgendwie nicht in Ihr Unternehmen passt. Nichts weiter als eine Ahnung. Ohne Gründe. Was würden Sie tun?
 

Fakten

Wie auch immer Sie sich bei den Beispielen entschieden hätten. Intuition ist eine menschliche Grundfunktion. Intuition geschieht. Täglich und ungefragt. Ihre Intuition fragt Sie nicht um Erlaubnis, ob sie auch in Ihnen wirken darf. Das ist der erste Fakt. Denn Intuition ist ein Ergebnis dessen, wie unser Gehirn funktioniert - und die Struktur unserer Gehirne sind prinzipiell gleich. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Ihrem und meinem Gehirn, allein was unsere Erfahrungen und das angeeignete Wissen angeht. Aber der mit Abstand größte Teil dessen was wir an Daten wahrnehmen und verarbeiten geschieht unbewusst. Der damit verbundene Erfahrungsschatz ist dann der Informationspool, aus dem heraus sich unsere Intuition bedient; und zwar nicht nur bei bahnbrechenden neuen Innovationen, sondern auch bei kleinen täglichen Entscheidungen.

Der zweite Fakt: Intuitive Entscheidungen sind oft erfolgreicher als rationale, besonders in komplexen Situationen, deren Ursache-Wirkungsketten nicht mehr einfach durchschaubar sind. Seit vier Jahrzehnten hat die Psychologie und Neurologie geholfen, Intuition als Entscheidungskompetenz besser zu verstehen. Eines der wichtigsten Ergebnisse: Menschen stoßen in komplexen Situationen mit ihrem Verstand schnell an Grenzen. Wir können nicht alle wichtigen Parameter einer Entscheidung in einer angemessenen Zeit durchdenken. Das Problem beginnt schon damit, dass entscheidungsrelevante Daten oft nicht vorhanden sind. In derartigen Situationen hilft uns unsere Intuition häufig weiter.

Ärgerlicherweise führt unsere Intuition jedoch nicht immer zu Erfolgen. Sie kann, weil sie sich unter anderem aus unserem Erfahrungsschatz bedient, auch zu Irrtümern führen - der dritte Fakt. Denn Erfahrungen können zu Erfolgsfallen werden: Wir stülpen über eine aktuelle Situation unsere Erfahrungen von gestern. Und die unterscheiden sich möglicherweise in einem oder mehreren Punkten von der gegenwärtigen Situation. Oder wir glauben aufgrund des Erfolgs die anstehende Aufgabe locker meistern zu können. So kommen wir zu falschen Schlussfolgerungen oder werden selbstüberheblich: „Ich kann mir keine lebensgefährliche Katastrophe vorstellen, die diesem Schiff zustoßen könnte.“ - sagte Edward John Smith nach über 45 Jahren (!) erfolgreicher Seefahrt. Und ging mit der Titantic unter.

Der vierte Fakt besteht in einem überraschenden Verhältnis: Unser Unbewusstes ist in der Lage, 11.000.000 Bits pro Sekunde aufzunehmen und zu verarbeiten. Unser Bewusstsein schafft überragende 60 Bits pro Sekunde. Somit übersteigt unsere unbewusste Wahrnehmung und Informationsverarbeitung unsere bewusste um den Faktor 183.000! Hand aufs Herz: Können wir es uns leisten, unser Unbewusstes und damit unsere Intuition so stiefmütterlich zu behandeln, wie wir es immer noch tun? Ist das nicht eine unökonomische Ressourcenverschwendung?
 

Erklärungen

Intuition ist nichts Mystisches. Sie lässt sich zu einem guten Teil mit wissenschaftlichen Modellen erklären. Hier die drei wichtigsten Erklärungen:

Unbewusste Wahrnehmung und Informationsverarbeitung: In einem Experiment lernten Versuchspersonen eine künstliche Sprache, bis sie deren Grammatik grob verstanden hatten. Dann wurden ihnen Sätze in dieser Sprache gezeigt und sie sollten in wenigen Sekunden entscheiden, ob sie grammatikalisch richtig sind. Überzufällig viele der Versuchspersonen entschieden korrekt und das, obwohl sie die Regeln nur teilweise gelernt hatten. Es wird aber noch interessanter: Nach der Begründung gefragt, warum der Satz falsch oder richtig ist, antworteten die meisten Personen falsch! Wir wissen also mehr, als wir sagen können - die richtigen Entscheidungen zur Korrektheit der Grammatik wurden intuitiv gefällt. Dieses Experiment und alle ähnlich gearteten Studien (derer nicht wenige) widerlegen eindeutig die mantrahafte Forderung, Menschen dürften nur als Experten auf Ihre Intuition achten. Nein, wir haben auch als Laien und Anfänger treffliche Intuitionen (denn die Versuchspersonen hatten ja die künstliche Sprache erst im Experiment gelernt).

Erfahrungswissen: Die sogenannte „Experten-Novizen-Forschung“ konnte immer wieder zeigen, dass Experten schnelle und qualitativ hochwertige Entscheidungen intuitiv treffen. Häufig sind diese intuitiven Entscheidungen den analytisch-rationalen überlegen. Das Gute: Wir können gar nicht vermeiden, Erfahrungen zu sammeln. Wir können es höchstens schaffen, kein besonders brillanter Experte auf unserem Gebiet zu werden. Mit der automatisch wachsenden Erfahrung wächst auch unsere professionelle Intuition. Deshalb lohnt es, die eigene Expertise fortwährend auszubauen.

Spiegelneurone: Wir verfügen über Nervenzellen, die das, was wir bei anderen Menschen beobachten, gewissermaßen in uns simulieren. In einem Experiment beobachteten Ehefrauen ihre Männer, denen in einem ethisch vertretbaren Rahmen leichte Schmerzen zugefügt wurden. Auffälligerweise waren bei den Frauen dieselben Hirnareale aktiviert wie bei den Männern, die den Schmerz leibhaftig erlebten. Das Modell der Spiegelneurone ist hervorragend geeignet, um menschliche Empathie erklären zu können.

Tipps

INDIVIDUELLE ENTSCHEIDUNGSKOMPETENZ

   1) Wenn möglich, sollten Sie Ihre Intuitionen möglichst oft wahrnehmen und im Alltagsstress nicht darüber hinweg huschen. Das heißt nicht, jeder Intuition reflexhaft zu folgen. Sie sollten nur  merken, das da noch etwas „Anderes“ war. Je öfter Sie dies üben, desto leichter wird es Ihnen fallen, Ihre Intuition wahrzunehmen.

   2) Wenn Sie eine Intuition für nützlich halten, können sie, sofern die Zeit reicht, andere hinzuziehen: Was denken die über Ihre Intuition? Geht es Ihren Kollegen in der Geschäftsführung oder Ihren Mitarbeitern ähnlich?

   3) Je komplexer Entscheidungen sind, desto eher sollten Sie auf Ihre Intuition achten.

   4) Bereiche mit großer Erfahrung sind gute Anwendungsbereiche, sollten aber gleichzeitig zur Achtsamkeit aufrufen. Denken Sie an Kapitän John Smith und die Titanic.

   5) Bereiche ohne große Erfahrung können auch Anwendungsfelder Ihrer unternehmerischen Intuition sein. Denken Sie an die 11.000.000 Bits!

UNTERNEHMERISCHE ENTSCHEIDUNGSKULTUR

   Anfängergeist: Lassen Sie Ihre eigene Expertise nicht zur Expertokratie verkommen. Bleiben Sie auch für grundlegende Veränderungen Ihres Fachgebietes offen. Halten Sie den aktuellen Wissensstand nicht für der Weisheit letzten Schluss. Vermeiden Sie den Killersatz „Das haben wir schon immer so gemacht“. Denn Erfolg sagt nichts darüber aus, ob es nicht andere, effektivere und effizientere Wege gibt, das Ziel zu erreichen. Andersherum: Lernen Sie, eine Herausforderung, Aufgabe oder ein Problem nicht nur durch Ihre Expertenbrille zu sehen, sondern auch durch die Augen des Anfängers. Das gelingt jedem nur bedingt (denn unsere Expertise ist teils in unser Unbewusstes abgesackt). Deshalb sollten Sie Praktikanten, Hospitantinnen, Berufsanfänger, Quereinsteiger oder Experten anderer Fachgebiete zu Rate ziehen.

   Selbstorganisation: Alle drei wissenschaftlichen Erklärungsmodelle, die unbewusste Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, das Erfahrungswissen und die Spiegelneurone sind selbstorganisierte Informationsverarbeitung. Schließlich gibt es in unserem Gehirn keinen CEO oder Geschäftsführer, der den anderen Gehirnarealen sagt, wo es lang geht, wann sie was abzuarbeiten haben und wie die Strategie „Mein Leben 2050“ aussieht. Das bestmögliche Umfeld für diese in jedem von uns stattfindende selbstorganisierte Informationsverarbeitung ist ein selbstorganisiertes Umfeld.

   Möglichkeitsräume: Wenn wir wirklich und dauerhaft innovativ sein wollen, brauchen wir die Kreativität aller vorhandenen Mitarbeiter, anstatt wie bislang üblich, nur die einiger weniger „Kreativer“. Dazu müssen wir allen Mitarbeitern in mindestens zweifacher Hinsicht Raum geben. Erstens zeitlich: Jeder sollte einen gewissen Teil seiner Arbeitszeit zur freien Verfügung haben, um Neues zu denken und zu entwickeln. Die Größenordung liegt bei ca. 10-20% der Arbeitszeit. Firmen wie W.L.Gore oder Google haben dies bereits äußerst erfolgreich umgesetzt. Zweitens finanziell: Wer Neues ersinnt und erspinnt, sollte diese Ideen auf die Straße bringen. Das braucht Ressourcen, die Geld kosten. Aber bitte vermeiden Sie lange Beantragungsrituale über 7 Hierarchiestufen und 23 Anträge mit je 3 Durchschlägen über einen Zeitraum von 6 Jahren. Wenn erst nach dieser Tortur 5000,- Euro zur Verfügung stehen, werden Ihre Mitarbeiter ihre intuitive Kreativität lieber in einem privaten Weblog oder bei der Gartenarbeit entfesseln.

   Fehlerkultur: Intuition ist keine heilige Kuh. Sie kann uns auch täuschen. Somit werden wir früher oder später intuitive Fehlentscheidungen treffen und ein Projekt vor die Wand fahren oder eine Fehlinvestition tätigen. Genau dann zeigt sich, ob Sie und Ihr Unternehmen wirklich zukunftsfähig sind. Denn dazu ist es nötig, einen intelligenten Umgang mit Fehlern zu entwickeln und nicht Schuldige zu suchen, um sie zu köpfen. So hat beispielsweise Klaus Kobjoll, der Inhaber und Geschäftsführer des preisgekrönten und seit vielen Jahren äußerst erfolgereichen Seminarhotels „Schindlerhof“, das Ritual „Fehler des Monats“ eingeführt, um besonders lehrreiche Fehler zu prämieren. Kein Scherz. Sondern mutig-innovatives Unternehmertum.

   Vertrauen: Intuition braucht Vertrauen. Und zwar in die eigene Intuition und die der Mitarbeiter. Nichts ist tödlicher für unsere Intuition, als Misstrauen und Kontrolle. Ist im übrigen auch für die intrinsische Motivation nicht wirklich hilfreich. Wenn Sie kontrollieren, müssen Sie Ihre Mitarbeiter mit immer mehr Geld bei Laune halten. Aber die Intuition werden Sie sich nicht erkaufen können. Beginnen Sie mit einem Vertrauensvorschuss und hören Sie auf Ihre eigene Intuition, wann Sie jemand nicht vertrauen sollten. Dann bedarf es jedoch auch eines zeitnahen Gesprächs mit diesem Mitarbeiter.

Damit haben Sie schon eine ganze Menge, was Sie tun können.
Viel Erfolg!

Dr. Andreas Zeuch
beratergruppe sinnvoll · wirtschaften

Expertise: www.a-zeuch.de
Beratung: www.sinnvoll-wirtschaften.de

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