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Interdisziplinärer Salon am 11. Mai 2010 in der Hertie School of Governance mit freundlicher Unterstützung von Egon Zehnder International, JobTicket, Heinrich Böll Stiftung und Gem. Hertie Stiftung

 

WAR FOR TALENTS

 

Impulsstatement

Dr. Ina Fliegen
JobTicket HR-Consulting

Die Diskussionsrunde

Dr. Michael Ensser
Egon Zehnder International GmbH

Prof. Dr. Gerhard Hammerschmid
Hertie School of Governance

Dr. Veit M. Etzold
Autor und Innovator

Moderation

Tiemo Ehmke, FORUM46
Interdisziplinäres Forum für Europa e.V.

Leitfragen

In einer sich entwickelnden  Economy of Ideas verändern sich die Anforderungsprofile an die Mitarbeiter ebenso, wie die Ansprüche seitens der Beschäftigten an das Unternehmen. Wie verändert sich die Arbeitswelt? Wie organisiert das HRM in Unternehmen oder Behörden diesen Wandel? Welche Qualitäten und Kompetenzen der Mitarbeiter werden in Zukunft prämiert? Was müssen die Bildungssysteme dazu leisten? Was erwarten wir von Migrationspolitik? Was erwarten diese „lösungskompetenten, psychisch stabilen, höchst leistungsmotivierten Talente“ in einer Arbeitswelt der Zukunft? Wann sind sie bereit, ihre Leistungsfähigkeit auch abzurufen bzw. wem in den Dienst zu stellen?

 


WAR FOR TALENTS

Impulsstatement zum Salon von Dr. Ina Fliegen

Guten Abend sehr geehrte Damen und Herren, ich bedanke mich für die Einladung, das Impulsstatement zur Diskussion des heutigen Abends zu halten. Meine Ausführungen und meine Fragen speise ich aus rund 20 Jahren im Personalwesen - u.a.  als Konzernpersonalleiterin und heute als freiberuflicher HR Consultant. War for Talents - das klingt kriegerisch. Und dramatisch. Ich habe zunächst - als gerade noch der Generation Facebook zugehörig - mein Social Media Network befragt und als Validierung auch Fachkollegen für eine Mini-Marktforschung dahingehend, was der Begriff auslöst. Die Facebook-Kommentare lauteten beispielsweise:

- Reiner Marketing-Trick
- Überbewertung des Einzelnen / des "Talents"
- Guter Ansatz, aber zu aggressiv in der Wortwahl
- Dramatisierung der Berater mit dem Ziel, neue Leistungspakete zu verkaufen

Meine Fachkollegen mochten den Begriff nicht viel lieber und brachten das aus ihrer Sicht zielführendere Employer Branding oder Talent Management  ins Spiel – weil diese Konzepte hilfreicher für Human Resources-Strategie seien. Erfunden hat den War for Talents Ed Michael, Director bei McKinsey in den USA im Jahre 1998. "In order to keep the pipeline full of talented people, almost all of the companies are starting to take nontraditional approaches to recruiting." Das Schlagwort breitete sich recht zügig aus und der Kampf um die Besten steht heute für die Suche nach Leistungsträgern und High Potentials. Wir haben es also beim Begriff mit einer eigentlich 12 Jahre alten Erfindung zu tun, in deren Folge viele Unternehmen ihre Recruiting-Strategien professionalisiert haben.

Aber zunächst einen Schritt zurück  - Was bedeutet  der Begriff „talent”? Im Deutschen lautet die Übersetzung von „talent” Begabung Geistesgabe, Eigenschaft, aber auch Führungseigenschaft - und natürlich Talent. Umgekehrt sind die englischen Übersetzungen für das deutsche „Talent” Synonyme wie ability, aptitude, capability und talent. Ein Talent der Jetzt-Zeit kann eine Person sein oder ein Skill-Set oder ein diagnostiziertes Potential für die spätere Ausbildung erwünschter Eigenschaften. Talent ist quasi der wertvolle Rohstoff in einer von menschlichen Fähigkeiten maßgeblich bestimmten Industrie, die Währung auf dem HR-Markt. Was macht  bspw. den Gameproducer einer Spieleentwicklungsfirma in Karlsruhe zum High Potential, was den Maschinenbauingenieur im Ländle, was den Creative Director einer Düsseldorfer Werbeagentur und was den Berliner technischen Key Accounter für den osteuropäischen Markt? Es geht neben sehr fundierten, spezifischen Fachkenntnissen um Schlüsselkompetenzen, wie den Umgang mit Komplexität, Sozialkompetenz, Resilienz gegenüber Beanspruchung, extreme Leistungsbereitschaft, hohe Eigenmotivation und Ergebnisorientierung Mit knappen Rohstoffen sollte man nachhaltig wirtschaften. Wenn Wissen der Rohstoff der Wissensgesellschaft ist, verlässt er jeden Abend die Firma und manchmal geht er ganz – ohne dass die Firma  einen Zugriff auf den verloren gegangenen Rohstoff  hätte. Allerdings – fragt sich der eine oder andere, um was für einen Krieg es sich beim War for Talents  eigentlich handelt. Um im militärischen Duktus zu bleiben: Wer liegt gegen wen im Schützengraben? Wo ist die Front? Mit  welchen Waffen führt man einen solchen Krieg? Und was gewinnt der Sieger?

Folgende mehr oder weniger kriegerische Szenarien sind im Kampf um den Rohstoff Talent denkbar:

1. Man kann um den  vorhandenen „externen” Rohstoff kämpfen – mittels  Recruiting, Headhunting, Auswahldiagnostik,  externer Unternehmensdarstellung, bspw. durch Employer Branding.
2. Man kann sparsam mit dem internen Rohstoff umgehen – durch Mitarbeiterbindung, Nachhaltigkeit, Fördern der Employabililty, also der professionellen Marktfähigkeit.
3. Man kann versuchen, neue Rohstoffquellen zu erschließen oder zu erobern – über Anwerben  auf dem internationalen Markt, Integrationsmaßnahmen für die Angeworbenen in Deutschland, Qualifikation des vorhandenen, bisher nicht „ausgeschöpften” internen und externen Personalpotentials.
4. Man kann versuchen, Rohstoff zu erzeugen – mittels Aus- und Weiterbildung durch die Unternehmen selbst, Zusatzqualifizierung für Spezialkräfte, Nachwuchsförderung, ein der Innovation förderliches Klima in der Organisation und ihrer Umgebung.

Die dritte und vierte Strategie würden bedeuten, dass die Unternehmen und Organisationen auch politische Funktionen einnehmen, wenn Bildungs- und Integrationspolitik auf verschiedenen Ebenen „versagen”.

Im Kriegsszenario ist das vorherrschende Bild das Abwerben von der Konkurrenz und Rekrutieren am Markt. Geboten werden zusätzliche Entlohnungssysteme, wie Assistance-Services, die Aussicht auf Stock Options, ein SUV als Firmenwagen oder  MBA-Programme. Ebenso wird mit der Unternehmenskultur, dem internationalen Projekt, der individuellen Karriereperspektive und flexiblen Arbeitsbedingungen geworben. Relevanter als rein monetäre Kriterien sind – und das ist empirisch durchaus belegt – Spielraum, der eigene Beitrag zu einer Geschäftsidee, das Wachsen an anspruchsvollen Aufgaben, die Kongruenz zwischen persönlichen Werten und Unternehmenswerten, die Ausstattung mit notwendigen Arbeitsmitteln und die Qualität der Führungsbeziehung. Weniger präsent im Kriegsszenario, aber genauso wichtig wie das Finden der Richtigen ist die Bindung an das Unternehmen. Denn warum gebe ich viel Geld und Mühe, um jemanden zu finden, wenn ich mich dann in der Integrationsphase weniger um dieses seltene Exemplar kümmere als um einen Azubi? Warum werden an bereits im Unternehmen befindliche Talente häufig strengere Maßstäbe angelegt als an Neueinstellungen? Ist dies der typische Glaube an den „neuen Besen”? Die Hoffnung einiger Vorstände, dass mit der Einstellung eines neuen High Potentials alle Probleme gelöst seien und die tiefe Enttäuschung, wenn diese Person dann wie ein normaler Mensch mit Stärken und Schwächen reagiert – habe ich mehrfach staunend erlebt, ebenso wie die dann folgende Phase der überzogenen Kritik am mangelnden Wunderwirken des neuen Talents.

Kennen wir die Bedürfnisse heutiger Potenzialträger, um sie zu gewinnen und langfristig zu binden? Die sogenannte Generation Y (die ab 1980 Geborenen) stellt - einer aktuellen Studie der online-Jobbörse Monster folgend - hohe Ansprüche an die Individualisierung ihrer Arbeitsbedingungen und die Unternehmenskultur. Sie ist gegenüber den vollmundigen Werteerklärungen der Unternehmen misstrauisch, hat sie doch gelernt, dass in der Krise und bei Restrukturierungen die vielbeschworenen Werte von den Unternehmen mit Füßen getreten wurden. Auf Websites wie kununu oder in Blogs und online-Communities berichten Mitarbeiter und Bewerber offen von ihren guten oder schlechten Erfahrungen mit Unternehmen. Die psychologische Vertragsbindung der Arbeitenden  ist  durch die dauernden Restrukturierungen, bei subjektiv gleichbleibend  guter Arbeitsleistung deutlich gesunken und Unternehmen werden zunehmend als unfair, kaum loyal und vertragsbrüchig erlebt.

Können wir Bedürfnissen hochqualifizierter Arbeitnehmer in unserem Unternehmen
zuverlässig Rechnung tragen? Hat der neue Experte oder die neue Expertin das Gefühl, sein oder ihr Potential einsetzen zu können, dass die eigenen Fähigkeiten geschätzt sind, dass das Briefing im Rekrutierungsprozess den Tatsachen entspricht? Auffallend ist oft, wie wenig Aufmerksamkeit den Auslösern und deren Beseitigung geschenkt wird, aufgrund derer Mitarbeiter sich abwerben lassen oder aktiv eine neue Stelle suchen. Wie kann es passieren, dass eine vermeintlich hochzufriedene Spezialkraft vom nächsten Headhunter abwerbbar ist? Der beste Schutz gegen den Verlust von Leistungsträgern ist, wenn sie gerne im Unternehmen arbeiten und ihre Entwicklung optimistischer als bei der Konkurrenz beurteilen. Die Instrumente zur nachhaltigen Bindung  der Top-Performer sind zum Teil gute alte Bekannte. Die Organisationspsychologie kennt und nutzt die Theorie und Praxis zur „Humanisierung des Arbeitslebens” aus den 70er Jahren bereits vielerorts sehr erfolgreich. Eine Schlüsselrolle liegt bei der Personalarbeit und den Führungskräften, an deren Kommunikations- und Reflektionsfähigkeit hohe Anforderungen gestellt sind. Sie sind der Dreh- und Angelpunkt für regelmäßige Mitarbeitergespräche, um in Zielvereinbarungen individuelle Ziele mit denen des Unternehmens abzugleichen, für die Potenzialbeurteilung, die Prüfung der Zielerreichung und für nötige Entwicklungsmaßnahmen. Darüber hinaus müssen Führungskräfte in der Lage sein, ihre eigene Rolle in der Führungsbeziehung wahrzunehmen und ggf. anzupassen.

Kann  ein kleines Unternehmen mit den gleichen Waffen in diesen Krieg ziehen wie die großen? Können an diesem Krieg überhaupt auch die KMUs teilnehmen, und vor allem – können Sie etwas gewinnen? Viele Start-ups und Mittelständler scheinen hier gute Erfolge zu verzeichnen. Fragt man Bewerber oder Mitarbeiter, werden Stichworte wie maximale Eigenverantwortlichkeit, das „eigene Baby”, unmittelbares Feedback zur eigenen Leistung und das glaubhafte „Leben der Werte im Unternehmen” genannt. Der Mittelstand hat gute Chancen, in diesem Kampf überproportional zu gewinnen, wenn er die entsprechenden Talente kommunikativ erreicht. Und dies ist die Herausforderung für die „Hidden Champions”.

Was ist eigentlich mit dem War for Talents angesichts eines nicht wirklich sinkenden Anteils von Arbeitslosen in einer Vielzahl von Ländern dieser Welt? Bleiben nur noch Prekariat und Elite und dazwischen der große Rest? Stimmt die überspitzte Einteilung von Herrn Sattelberger in Wissenskapitalisten versus Söldnerheer? Wen sucht Deutschland zurzeit? Ärzte, Lehrer  für Mathematik und Naturwissenschaften, Ingenieure, Elektronik- und IT- Spezialisten, Treasury-Manager, oder Controller beispielsweise. Welche Nationen haben einen Überschuss oder überhaupt Ressourcen in den genannten Berufen? Interessieren sich diese Nationalitäten für das Arbeiten in Deutschland und werden sie in der Lage sein, sich beruflich und privat in das Leben in Deutschland, das nicht für beispielhafte Integration berühmt ist, zu integrieren? Und – ist es fair, Entwicklungs- oder Schwellenländern ihre Ressourcen zu nehmen, unter Umständen ohne relevante Gegenleistung?

Wozu also dient das Schlagwort „War for Talents”? Soll es motivieren, Energien und Reserven mobilisieren oder ist es nur eine Panik erzeugende Worthülse? Ist es am Ende sogar schädlich, weil es unsere Aufmerksamkeit und Kraft von den arbeitsintensiven Details der nachhaltigen Personalarbeit abzieht?
 
Und mit den folgenden Wünschen an die Diskussionsrunde möchte ich  schließen: Ich wünsche mir, dass der War for Talents nicht nur für Recruiting, sondern nachhaltige Mitarbeiterbindung steht, ich wünsche mir Umsetzung von HR-Konzepten statt Absichtsäußerungen und  ich wünsche mir Strategien für alle Organisationsgrößen, insbesondere für den Mittelstand.

Dr. Ina Fliegen ist Diplom-Psychologin und freiberuflich als HR Consultant, Trainer und Coach tätig.
>>> www.xing.com/profile/Ina_Fliegen

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