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Eine 360-Grad-Denkweise muss sehr viel bewusster zu Kernpfeilern jedweder Gestaltung der Zukunft werden.

Von Dr. Hagen Schulz-Forberg, Mitglied des FORUM46 und Assistant Professor in International History, Universität Aarhus, Dänemark

Das FORUM46 wurde vor über sechs Jahren gegründet - also vor der Finanzkrise, vor dem Untergang des europäischen Verfassungsvertrages, vor dem Beitritt von zehn neuen Mitglieder in die Europäische Union. In einer Zeit also, in der noch sehr viel EU-Enthusiasmus herrschte und so genannte und sich selbst so nennende zivilgesellschaftliche Organisationen nur so aus dem Boden sprossen, um sich um Europa zu kümmern. Oft handelte es sich um Organisationen, die einen klaren Bezug zur EU hatten und eine Art verlängerter Arm der europäischen Integrationsbestrebungen sein wollten und die die EU zu erklären versuchten. Sie wollten Europa den Bürgern näher bringen – ein Ziel, dass die Europäischen Institutionen selbst ja schon seit mittlerweile fast vierzig Jahren formulieren.

Uns hat da etwas gefehlt. Verstehen Sie uns nicht falsch, wir waren und sind keine Bande von zynischen Europakritikern. Ganz und gar nicht. Zynismus liegt uns fern und wir sind enthusiastische Europäer. Jedoch: das Formel-und Schablonenhafte, das Automatismusbeschwörende der damaligen Debatten um europäische Identität und Kultur, um die Verfassung und die Integration, liessen die oft notwendige kritische Tiefe vermissen. Es herrschte ein Glauben an eine Art Integration auf Schienen, Integration als eine Maschine, die sich – so sie denn richtig eingestellt ist – von alleine antreibt.

Das hat uns zum Nachdenken angeregt. Wo sind die Europäer in diesem Ganzen? Was machen die eigentlich so? Findet man sie repräsentiert durch Projekte, die einen Zug voller Jazzmusiker aus aller Herren Länder durch den Kontinent rollen lassen? Wie sieht die europäische Gesellschaft aus, wenn man die nationale Brille abnimmt? Was passiert, wenn man Europa miteinander in Verbindung bringt und über ein gemeinsames Thema nachdenken lässt, das nicht unbedingt ein Politikfeld der EU abdeckt? Ist ein kritischer und gleichsam kreativer europäischer Dialog nicht Grundlage und Notwendigkeit jeder Integration? Und was passiert mit Themen wie Qualität, Führung oder Peripherie, wenn verschiedene kluge Köpfe aus den Bereichen Wirtschaft, Kunst, Politik und Wissenschaft sich darüber gemeinsam den Kopf zerbrechen?

Das Zusammenspiel der Teilsysteme bringt den grössten Erkenntnisgewinn. Davon sind wir überzeugt. Wie können wir aber verhindern, dass wir in eine Gewohnheitshaltung des Denkens verfallen? Dass wir einer erreichten semantischen Hegemonie unkritisch durch Wiederholungen huldigen: „Der Markt führt automatisch zu Demokratie“. „Identität führt automatisch zu politischer Partizipation“. „Ein Fördertopf führt automatisch zu neuem Wachstum“. „Mein Haus wird automatisch morgen immer mehr Wert sein als heute“? Etc.

Und so wurde uns als FORUM46 klar, dass wir das Kuscheln mit etablierten Meinungen und Diskursen nicht wollten. Wir wollen die Erbse unter der Matratze der Prinzessin sein; kein Stachel oder ewiger Zeigefinger, der immer schon alles besser wusste, sondern die kleine Erbse. Eine zwar kritische aber durchaus freundliche und dialogbereite Erbse, welche die Prinzessin aufwachen und sich fragen lässt: Was ist denn los? Es war doch gerade so gemütlich. Stimmt etwas nicht? Und dann fängt sie an nachzudenken, die Teile neu zusammenzusetzen, den womöglich noch gar nicht recht verbalisierbaren Problemen auf der Spur. Und somit war uns auch klar geworden, dass wir nicht nur europäisch denken und sein müssen, sondern auch interdisziplinär. Schliesslich ist ja ein nationaler Raum bereits so vielschichtig, dass eine künstliche Dialogsituation zwischen Nationen uns als zu konstruiert, zu politisch korrekt erschien.

Das interdisziplinäre Analysieren und Handeln erscheint uns als eine Art Versicherung vor Gedankenverkrustung. Eine Methode, die uns fit hält und andere fit machen kann. Dabei nehmen wir beide Teile des Wortes sehr ernst. Der zweite - die Disziplin- ist unabdingbar notwendig, um den jeweils in Beziehung gesetzten Dingen auch ihre notwendige Tiefe zu garantieren. Der erste Teil - das Inter - signalisiert nicht nur, dass sich zwei oder mehrere Dinge, Personen oder Fragen miteinander auseinandersetzen können, sondern auch das Dazwischen: der Raum zwischen den Dialogpartnern, das unsichtbare Dritte in jeder Kommunikation. Und so ist neben dem kritischen, ungeschminkten und multiperspektivischen Nachdenken vor allem das sinnvolle und gewinnbringende In-Bezug-Setzen als hohe Kunst und hehres Ziel ein Hauptantrieb unserer Arbeit.

Der Interdisziplinäre Salon für Europa ist Ausdruck dieses Ziels. Gleichsam die sichtbare Spitze des Eisberges. Die Erfahrungen der bisherigen Salons haben uns immer weiter an diesem Format arbeiten lassen. Manchmal hat das In-Bezug-Setzen auch nicht so recht funktionieren wollen, war das sensible Zusammenspiel etwas rostig-rumpelig und die neuen Ideen schienen vielleicht etwas zu gewollt. Der Weg vom hohen Ziel in die hohle Phrase ist manchmal recht kurz. Aber Letzteres wollten wir natürlich vermeiden. Und so haben wir weiterhin Feinjustierung betrieben und dürfen dafür heute einen sehr wichtigen Preis entgegen nehmen.

Der Salon ist Ausdruck unseres Anspruchs und Ziels, eine europäische Plattform für Vordenker zu sein. Eine Begegnungsstätte für Vordenker und Querdenker. Der Salon ist zum gemeinsamen Wohlfühlen da, zum Konzentrieren ohne Reputationssangst oder Zieltermin, ohne hypertrophen Aktionismus. Wir wollen auf hohem Niveau aber ohne Angeberei oder Arroganz miteinander reden und denken – und zwar über wichtige Dinge.

Neues Denken, Innovation, Kreativität werden heute gross geschrieben. Von der wissensbasierten Gesellschaft ist die Rede, von den Creative Industries und von neuen Technologien im Allgemeinen. Diese Dinge entstehen nicht ausschliesslich im Vakuum von Inkubatoren oder Förderprogrammen auf der grünen Wiese, sie entstehen vor allem durch Einbettung in die Gesellschaft und bekommen somit auch eine für diese Gesellschaft typische Färbung.

Dabei schieben sich auch die nationalen Linsen immer wieder vor das Okular. Wie kann Deutschland erst einmal für sich selbst sorgen und sich nicht überholen lassen? Zum Beispiel indem es erkennt und sich stets erinnert, dass die nationalen Sicherheiten durch einen europäischen Rahmen gestützt und gesichert werden. Den europäischen Dialog zu stärken ist daher unabdingbar grundlegend, auch in Zeiten der Krise, in der einem der eigene Herd näher ist.

Ein gemeinsames Europa, das zusammen arbeitet, denkt sowie Werte und Ideen schafft, wird dabei hoffentlich nie ein homogener Raum werden. Das Projekt der europäischen Identität als im Labor hergestelltes, künstliches Surrogat gilt es zu beenden. Stattdessen sollte das gewachsene, gegenwärtige, sich bei allem Dialog auch missverstehende Europa als gemeinsamer politisch-gesellschaftlicher Raum begriffen werden. Es sind die verschiedenen Sprachen, die verschiedenen Denkweisen, die In-Bezug-gesetzten Gegensätze europäischer Erfahrung, die einen hohen Grad an Reibung und Kreativität entstehen lassen.

Vielleicht hilft uns ein kritischer, ehrlicher interdisziplinärer Dialog auch dabei, unsere Gegenwart und somit unsere Vergangenheit, aber vor allem unsere Zukunft besser einzuschätzen. Die Zukunft holt uns früher oder später sowieso wieder ein. Joseph Schumpeter, unser aller Pate der Innovation und der „creative destruction“, hielt es 1942 für schlicht unvorstellbar, dass der Kapitalismus überleben wird und machte sich Gedanken über ein Entkoppeln von Demokratie und Markt und ein Verkoppeln von Demokratie und Sozialismus.1 Auch wenn es nicht eintraf, war es dennoch gut, darüber nachzudenken. John Maynard Keynes erkannte die typische Eigenschaft europäischer und westlicher Gesellschaften, sich ständig neue Zukünfte zu generieren und er glaubte an den Markt, mehr als ihm heute manchmal zugestanden wird, wenn er vor allem mit Staatshilfen identifiziert wird. Er glaubte daran so sehr, dass er das Eingreifen des Staates in Situationen von sich in die Rezession neigenden Wirtschaftszyklen als Starthilfe in den nächsten Wachstumszyklus in Betracht zog. Die Zukunft, so Keynes, das Neue, könne nicht mit altem Denken gestaltet werden - das war schon in den 1930er Jahren der Fehler des radikalen Liberalismus. Und er gab dem damaligen Westen ja nicht nur eine Idee des aktiven Staates, der eine nationale politische Ökonomie und „full employment“ als neues Ziel formulierte. Er hat auch 1944 in Bretton Woods die Grundlagen für ein globales Wirtschaftssystem gelegt. Er hat, wie auch Karl Polanyi, der 1944 über das Ende der Marktutopie reflektierte, die soziale Einbettung des Marktes erkannt, wenn er sie auch nicht zum Kern seiner Analysen machte.2 Aber er hat auch auf seine interdisziplinäre Weise mit einer auf Mathematik basierenden generellen Theorie der Arbeitslosigkeit zu etwas beitragen wollen, dass er nur mit einem einzigen Wort in der Zusammenfassung seines Hauptwerkes von 1936 erwähnt: Frieden.3

Die Dinge neu und realistisch zusammen zu denken, ist also nicht eitles Kulturprogramm zu Nischensendezeiten. Es sollte uns gerade heute immer wichtiger werden, wenn die Prognosen der sehr nahen Zukunft mit schöner Regelmässigkeit voll daneben liegen. Ganz davon abgesehen, dass die Gegenwart scheinbar davon geprägt ist, dass unsere Erfahrungen und unsere Erwartungen immer mehr von einander entkoppelt sind. Wir erleben eine starke Unsicherheit die Zukunft betreffend und starke Tendenzen zu kulturellen und religiösen Essentialisierungen, die DEN ISLAM und UNSERE WERTE gegenüberstellen, die in Richtung unserer Bundeskanzlerin einen starken Wunsch nach HANDELN und FÜHRUNG ausdrücken. Handeln um des Handelns Willen ist jedoch ähnlich wenig Wert wie Denken um des Denkens Willen. Auch wenn es weit hergeholt erscheinen mag, eine 360-Grad-Denkweise und entsprechende Wahrnehmung der Gegenwart muss sehr viel bewusster zu Kernpfeilern jedweder Gestaltung der Zukunft werden.

1 Joseph A. Schumpeter, Capitalism, Socialism and Democracy, New York: Harper & Brothers, 1942.

2 John Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest, and Money, New York: Harcourt, Brace & World, 1936; Karl Polanyi, The Great Transformation. The Political and Economic Origins of Our Time, New York: Farrar & Rinehart, 1944.

3 Keynes, General Theory, S. 381: ”I have mentioned in passing that the new system might be more favourable to peace than the old has been. It is worth while to repeat and emphasise that aspect.”

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