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Vereinigte Staaten von Europa - Visionen deutscher Dichter und Denker

Von Annemarie Pieper

„Europa“ war im deutschen Sprachraum insbesondere für die Dichter und Denker des 18.,
19. und 20. Jahrhunderts weniger ein Name für das geographische Territorium, das im
mediterranen und nordalpinen Raum durch den Zusammenschluss mehrerer Länder zu einer
politisch- wirtschaftlichen Gemeinschaft entstanden war, sondern eine Idee: „Europa“
bezeichnete eine geistig-kulturelle Verwandtschaft, die durch das antike griechisch-römische
und das christliche Erbe geprägt ist. Europa oder — wie es auch hiess — das Abendland
bezog sich somit auf eine Lebensform, die auf dem Boden einer freiheitlich orientierten
Wertordnung gewachsen ist, welche ein humanistisches Selbstverständnis des Menschen
ausgebildet hat. Der Gedanke einer einheitlichen Vernunft, die das Differente, ja Heterogene
als jeweils gleichwertige Repräsentation des Ganzen respektiert, hat seit der Aufklärung einer
auf Toleranz beruhenden pluralistischen und multikulturellen Weltanschauung den Weg
bereitet. Hegel konstatiert: „Das Prinzip des europäischen Geistes ist [...] die selbstbewusste
Vernunft, die zu sich das Zutrauen hat, und die daher Alles austastet, um sich selbst darin
gegenwärtig zu werden.“ (Enzyklopädie, § 393, Zus.)

Der Überschuss, den die Idee „Europa“ über das real existierende Europa hinaus aufweist,
manifestiert sich in politischen Konstrukten, die den Charakter einer Utopie hatten. Als
Zukunftsentwürfe enthielten sie die Vision eines Reichs der Freiheit, von dem Karl Marx
meinte, dass es sich mit einer der Notwendigkeit von Naturgesetzen vergleichbaren
historischen Kraft im Gefolge des revolutionären Umsturzes der kapitalistischen Verhältnisse
von selbst einstellen werde. Kant hatte bereits — Hegels These von der List der Vernunft
vorweg nehmend — mit der Hypothese eines Plans der Natur gearbeitet, die ohne Rücksicht
auf die faktischen Privatinteressen der Individuen auf einen weltbürgerlichen Zustand zielt, in
welchem eine befreite Menschheit ihren Endzweck erreicht haben wird, nachdem es ihr
gelungen ist, sich zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren. Damit wäre die
Herrschaft der sittlich-praktischen Vernunft auf Dauer gesichert. Friedrich Schiller schwebte
eine andere Staatsutopie vor. Er wählte in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des
Menschen nicht die zweite der Kantischen Kritiken — die Kritik der praktischen Vernunft —,
sondern die dritte Kritik, die Kritik der Urteilskraft, speziell die Kritik der ästhetischen
Urteilskraft als Ausgangspunkt für seine Überlegungen zum „Bau einer wahren politischen
Freiheit“ (Ästh. Erz., 5). Seine utopische Konstruktion eines ästhetischen Staates orientiert
sich am Kunstwerk, dessen Schönheit Indiz einer gelungenen Synthese zwischen Sinnlichkeit
und Sittlichkeit ist. Eine solche Synthese bringt der Spieltrieb zustande, der Stofftrieb und
Formtrieb nicht als feindliche Strebevermögen gegeneinander kämpfen lässt, sondern ihr
materielles bzw. normatives Interesse spielerisch, mit den Mitteln der Einbildungskraft
aufeinander bezieht und in einem Gebilde zur Entfaltung bringt, das sich als harmonische
Interaktions- und Kooperationsgemeinschaft freier und gleicher Individuen darstellt. „Mitten
in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der
ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des
Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem,
was Zwang heisst, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.“ (Ästh. Erz., 125)

Im ausgehenden 18. Jahrhundert herrscht in den intellektuellen Kreisen Aufbruchstimmung,
ausgelöst durch die französische Revolution und die durch sie propagierten Ideen Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit. Ausdrücke wie „unsichtbare Kirche“ und „freier Bund“ oder
„Bund der Geister“ signalisieren die Zukunftsvision einer Gesellschaft, deren Mitglieder nicht
mehr auf das Mittel der Gewalt setzen, sondern auf die Kreativität gebildeter Menschen, die
sich in ihrer persönlichen Entwicklung gegenseitig unterstützen. Besonders deutlich zeigt sich
dies in einem Textfragment aus den 90-er Jahren des 18. Jahrhunderts, von dem man nicht
genau weiss, wer der Verfasser dieses Textes ist, das man das „Älteste Systemprogramm“
getauft hat. Es weist zwar eindeutig Hegels Handschrift auf, wird von den einen aber eher
Schelling, von den anderen Hölderlin zugeschrieben. Wahrscheinlich ist es ein
Gemeinschaftsprodukt aller drei, denn es atmet den Geist des Tübinger Stifts, an dem Hegel,
Schelling und Hölderlin unterrichtet wurden. Sie und ihre Freunde sollen einen Freiheitsbaum
errichtet haben, um den sie einen Freudentanz aufführten, als sie von der französischen
Revolution hörten.

Im „Ältesten Systemprogramm“ heisst es: „Die Idee der Menschheit voran — will ich zeigen,
dass es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas mechanisches ist, so wenig als es
eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heisst Idee. Wir
müssen also auch über den Staat hinaus! — Denn jeder Staat muss freie Menschen als
mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.“ Am Ende
des Fragments ist die Rede von einer gleichen Ausbildung aller Individuen, die schliesslich
zur Freiheit und Gleichheit der Geister führt. Eine neue Religion sei dazu nötig, die mittels
einer Mythologie der Vernunft die Kluft zwischen dem unaufgeklärten Volk und den
aufgeklärten Philosophen aufhebe, indem sie das Volk vernünftig und die Philosophen sinnlich
macht. Diese Utopie eines Reichs freier Geister spukte in den Köpfen der deutschen
Idealisten herum, wobei sie sich über die Umsetzung wenig Gedanken machten. Schiller
meinte eher pessimistisch, dass dieser Entwurf einer wahrhaft politischen Gemeinschaft wohl
nur in elitären Kreisen Anklang finde, „in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln“ (Ästh. Erz.,
128), wo bereits fortschrittliche Denker anzutreffen sind, die sich gegenseitig austauschen.
Die ungestümen jungen Zöglinge des Tübinger Stifts hingegen waren fest davon überzeugt,
dass ihre Ideen sich zunächst in Deutschland, von dort über Europa und schliesslich über die
ganze Welt ausbreiten würden, wenn man nur ernsthaft mit einer ganzheitlichen Ausbildung
und Erziehung beginnen würde. Eine Variante zu diesem Konzept einer ästhetischen
Gesellschaft stellt jene Schrift des unter dem Namen Novalis bekannten Dichters Friedrich
Hardenberg dar, die den Titel trägt Die Christenheit oder Europa, erschienen 1799. In diesem
Fragment gebliebenen Aufsatz beklagt Novalis die bestehenden Verhältnisse, die das Resultat
einer Entartung des christlichen Selbstverständnisses der Europäer seien. Den Auftakt bildet
daher eine rückwärts gewandte Utopie: „Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein
christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil
bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen
dieses weiten geistlichen Reichs. — Ohne große weltliche Besitzthümer lenkte und vereinigte
Ein Oberhaupt die großen politischen Kräfte.“ (Schriften, Bd. 3, II; 507) Novalis betont, dass
es „heilige Menschen“ waren, die die Geschicke Europas leiteten und den Schwachen Hilfe
und Schutz gewährten, so dass niemand in Armut und Elend leben musste. Der gemeinsame
Glaube habe den Europäern „Frieden der Seele und Gesundheit des Leibes“ beschert (508).
Zusammenfassend bemerkt er: „Das waren die schönen wesentlichen Züge der ächtkatholischen
oder ächt christlichen Zeiten.“ (Ebd., 509) Ersichtlicherweise beschreibt Novalis
keine historischen Zustände, sondern versteht unter Europa ein idealisiertes Griechentum,
wie es vor ihm schon Winckelmann und Schiller gerühmt haben, allerdings ohne die
spezifisch christliche Perspektive, die Novalis seiner Utopie eines goldenen Zeitalters
zugrunde legt. Was ihn mit Schiller verbindet, ist die Vorstellung von Ganzheitlichkeit, die
Schiller als „Totalität des Charakters“ beschrieben hat. Schiller führt den Verlust dieser
Totalität des Charakters auf eine Kultur zurück, die dem Spezialistentum den Vorzug gab und
damit den Blick für das Ganze immer mehr einschränkte, was eine innere Zerrüttung des
Menschen zur Folge hatte.

Das Resultat war entsprechend ein Staat, dessen Mitglieder nicht mehr einen autopoietisch
agierenden, lebendigen Organismus bildeten, sondern den mechanischen Vorgängen eines
toten Uhrwerks unterworfen waren. Im 6. Brief beschreibt Schiller dies eindringlich: „Jene
Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens
genoss und, wenn es not tat, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt einem kunstreichen
Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein
mechanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinander gerissen wurden jetzt der Staat und
die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom
Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines
Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig
nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die
Harmonie seines Wesens.“ (Ästh.Erz., 20)

Was Schiller durch die Metaphern des Organismus und des Uhrwerks erklären möchte, ist der
Abstieg vom Griechen zum Europäer, der aufgrund einer einseitigen Ausbildung seiner
Verstandeskräfte die Welt und sich selbst analytisch seziert hat, bis er selber zum Bruchstück
geworden ist, ausserstande, die Fragmente wieder zu einem lebendigen Ganzen
zusammenzufügen. Ähnlich kritisiert auch Novalis den Verlauf der Geschichte, wobei er
weniger den Rationalismus als die Verrohung der Sitten für den Verfall verantwortlich macht.
Anstatt dem ursprünglichen christlichen Europa treu zu bleiben, hätten die Europäer durch
Kriege und Habgier eine schädliche Kultur entwickelt, die der Befriedigung niedriger
Bedürfnisse diente. Dabei verlor die Religion „ihren grossen politischen friedensstiftenden
Einfluss, ihre eigentümliche Rolle des vereinigenden, individualisierenden Prinzips, der
Christenheit.“ (Schriften, 512)

Für Novalis ist die Zeit der Besinnung gekommen, nachdem das Weltliche über das Sakrale
die Oberhand gewonnen habe und alle Spuren der Poesie und des Heiligen getilgt worden
seien. Europa müsse sich wieder auf sich selbst und seine Wurzeln zurück beziehen, um die
Weichen für eine erneuerte christliche Zukunft stellen zu können. „Aus dem heiligen Schooße
eines ehrwürdigen europäischen Consiliums wird die Christenheit aufstehn, und das Geschäft
der Religionserweckung, nach einem allumfassenden, göttlichen Plane betrieben werden. [...]
sie wird, sie muss kommen die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die
Hauptstadt der Welt seyn wird; und bis dahin seyd heiter und muthig in den Gefahren der
Zeit.“ (Ebd.,524)

Wie die Verfasser des ältesten Systemprogramms sieht auch Novalis das Heil Europas in
einer neuen Religiosität. Doch anders als diese, die das Christentum überwinden wollen
durch eine aufgeklärte Vernunft, welche sich mythischer Vorstellungen nur zum Zweck
sinnlicher Veranschaulichung bedient und im übrigen eine unsichtbare Kirche etablieren
möchte, versucht Novalis den christlichen Geist wieder zu beleben und die ursprüngliche
Harmonie unter den Menschen wiederherzustellen. Dass sich dieses Ziel nur unter gewaltigen
Anstrengungen erreichen lässt, sieht er durchaus realistisch: „Es wird so lange Blut über
Europa strömen, bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im
Kreise herumtreibt, und von heiliger Musik getroffen und besänftigt zu ehemaligen Altären in
bunter Vermischung treten, Werke des Friedens vornehmen, und ein grosses Liebesmahl, als
Friedensfest, auf den rauchenden Wahlstätten mit heissen Tränen gefeiert wird. Nur die
Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit
neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedenstiftendes Amt installiren.“
(Ebd., 523)

Novalis entwirft also die Utopie eines Europa, das als eine Weltgesellschaft konzipiert ist, die
auf religiösen Werten basiert und ein friedliches Miteinander der Verbundstaaten postuliert.
Es ist die romantische Idee einer globalen Humangemeinschaft in europäisch-christlichem
Geist, die dem zerrissenen Zeitgeist des ausgehenden 18. Jahrhunderts als Korrektiv dienen
soll, mit dessen Hilfe das untergegangene, idealisierte Europa des goldenen Zeitalters in die
Zukunft projiziert werden soll — als Anreiz für eine Neuerschaffung des verlorenen
Paradieses. Novalis scheint es dabei weniger um eine Erneuerung des historischen
Christentums als um eine humanistisch gefärbte Religiosität zu gehen, die anschlussfähig ist
an andere Religionen, welche einen Gott der Liebe verehren und entsprechend für friedliche
zwischenmenschliche Beziehungen plädieren.
 
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt Friedrich Nietzsche seine Utopie der
vereinigten Staaten Europas. In einem Nachlass- Fragment vom Frühjahr 1884 notiert er:
„Europa also zu fassen als Kultur-Centrum: die nationalen Thorheiten sollen uns nicht blind
machen, daß in der höheren Region bereits eine fortwährende gegenseitige Abhängigkeit
besteht. Frankreich und die deutsche Philosophie. R. Wagner von 1830-50 und Paris. Goethe
und Griechenland. Alles strebt nach einer Synthese der europäischen Vergangenheit in
höchsten geistigen Typen — — — eine Art Mitte, welche das Krankhafte in jeder Nation
(z.B. die wissenschaftliche Hysterie der Pariser) ablehnt.“ (Nachlass; KSA 11, 42) Nietzsche
sah in der Multikulturalität der Europäer einen fruchtbaren Boden für eine neue Genialität,
die sich nur in der Berührung und Vermischung mit dem Geist anderer Nationen herausbildet.
Er spricht daher von Europa als einem Kultur-Zentrum, nicht als einem politischen Verbund,
und die höhere Region, in welcher die von ihm verachteten Nationalismen keine Rolle mehr
spielen, ist die der geistigen Elite, vor allem die der Künstler — der Musiker, Dichter und
Schriftsteller —, weniger die der Wissenschaftler. Diese geistige Elite sind für ihn die
typischen Europäer, aus deren Mitte sich die kulturellen Errungenschaften fortpflanzen und
steigern.

Wehe aber, so Nietzsche, wenn „Europa in die Hände des Pöbels geräth“, dann „ist es mit der
europäischen Cultur vorbei!“ Auch Nietzsche übt, wie schon seine idealistischen Vorgänger,
heftige Kritik an den Europäern seiner Zeit. Anders jedoch als Schiller, der die
Fragmentarisierung des ganzheitlichen Menschenbildes auf den Logozentrismus einer
verabsolutierten theoretischen Vernunft zurückführt, und anders als Novalis, der die
Verrohung der Sitten der Säkularisierung der Lebensvollzüge zuschreibt, macht Nietzsche das
Christentum für die Schwächen und Laster der modernen Europäer verantwortlich. Das
Christentum habe durch seine Sklavenmoral die Menschen zu unterwürfigen, zahmen und
das Mittelmässige schätzenden Herdentieren gemacht, die von den Mächtigen für jeden
Zweck missbraucht werden können. Solange der „grosse Pöbel“ nur gehorsames Massenvieh
ist, hält Nietzsche die Demokratie für eine schlechte Staatsform, weil niemand imstande ist,
sich ein eigenes kompetentes Urteil zu bilden, und die Mitglieder der Gesellschaft insofern
allen möglichen Einflüsterungen erliegen. Beschlüsse einer unqualifizierten Mehrheit können
daher aus Nietzsches Sicht keine Verbindlichkeit haben. „Demokratie ist die Verfalls-Form
des Staates“, konstatiert er (Nachlass; KSA 11, 267) und ergänzt ätzend: „Unsere ganze
Sociologie kennt gar keinen anderen Instrinkt als den der Heerde, d.h. der summirten Nullen
... wo jede Null ‚gleiche Rechte‘ hat, wo es tugendhaft ist, Null zu sein ...“
(Nachlass; KSA 13, 238)

Die Prognose, die Nietzsche vor mehr als hundert Jahren im Sinne einer schlechten Utopie
verkündete, hat sich in mancher Hinsicht erfüllt: „Einstweilen constatiren wir nur die
zunehmende Entgeistigung und Verpöbelung des Geschmacks — ein immer vulgäreres
Erholungs- Bedürfnis: die späteren Zeiten werden die krankhaften Bedürfnisse im
Vordergrunde finden, die Steigerung der Reizmittel, die alkoholischen und Musik-Opiate.“
(Nachlass; KSA 13, 429) Mit beissender Ironie und in unseren Ohren nahezu rassistisch
klingenden Typenbeschreibungen charakterisiert er die Euopäer seiner Zeit als verzwergte
Barbaren: „die Verdummung (‚der Engländer‘ als Normal-Mensch sich anlegend) die
Verhäßlichung (‚Japanisme‘ — Der revoltirende Plebejer) die Zunahme der sklavischen
Tugenden und ihrer Werthe (‚der Chinechemwerse‘)“ (Nachlass; KSA 11, 45)
Auch und besonders an den Deutschen lässt Nietzsche kein gutes Haar. Er halte es in
Deutschland nicht aus, wo „der Geist der Kleinheit und der Knechtschaft“ herrsche. Die
Deutschen seien décadents, in ihrem Hornvieh-Nationalismus in der Degenereszenz,
unterwegs zu einer „Art von europäischem Chinesenthum, mit einem sanften buddhistisch
 
christlichen Glauben, und in der Praxis klug-epikureisch, wie es der Chinese ist — reduzirte
Menschen.“ (Nachlass; KSA 11,72) Was Nietzsche hier so verächtlich macht, ist wie erwähnt
der Typus des Massenmenschen, dessen Herdentiermentalität keine geistige
Höherentwicklung zulässt. Es ist der Typus des von Nietzsche so genannten letzten Menschen
(vgl. Zarathustra; KSA 4, 19f.), den er in den gleichförmigen und gesichtslosen Europäern
seiner Zeit zu erkennen glaubte. Der letzte Mensch hat sich im bequemen Mittelmass
eingerichtet. Er hält Mass nicht aus Tugend, sondern weil ihm alles über den Durchschnitt
hinaus Gehende zu beschwerlich ist. So rückt er mit dem Nachbarn im gemeinsamen warmen
Mief zusammen, nicht weil er harmoniebedürftig ist, sondern weil Feindschaft zu sehr
anstrengt. Er begnügt sich mit einem Lüstchen für den Tag und einem Lüstchen für die
Nacht, weil eine ganze Lust seine Sinne überfordert. Er arbeitet gerade soviel als für den
Lebensunterhalt notwendig ist. Politisch betätigt er sich nicht, weil die Ausübung von Macht
zuviel Kraft kostet. Der letzte Mensch will nur seine Ruhe, dann ist er glücklich. Hohe Ideale
überfordern ihn ebenso wie Wettbewerbe und Konflikte. Also strebt er nach Frieden und
Harmonie.

Fast scheint es so, als ob Nietzsche die romantische Utopie, wie Novalis sie entwarf,
karikierte, und so ist es auch. Für Nietzsche ist die Vorstellung einer nicht mehr
kämpferischen, nicht mehr mit allen Kräften an ihrer Höherentwicklung arbeitenden
Gesellschaft unerträglich. Ein statischer Endzustand ist für ihn eine Verfallserscheinung, da
alle vitale Energie geschwächt, ja ausgelöscht würde, so dass sich nichts Neues mehr
entwickeln könnte. Dagegen setzt Nietzsche seine Utopie einer aristokratischen Lebensform,
die Lebensform des grossen Europäers. Es gelte, „eine herrschende Kaste zu bilden“ (ebd.),
deren grosse Individuen „die Herren Europas“ (Morgenröthe; KSA 3, 181) und schliesslich
„die Herren der Erde“ würden. (Nachlass; KSA 11, 582) Man muss sich daran erinnern, dass
Nietzsche von einer geistigen Elite sprach, einem Kulturzentrum, von dem Impulse zur
Hebung des Bildungsniveaus der Massen ausgehen sollten. Dann würden auch die
Nationalismen, deren Verabsolutierung Nietzsche für die „letzte Krankheit der europäischen
Vernunft“ hielt — er bezeichnet sie als „rabies nationalis“ (Nachlass; KSA 13, 532) =
nationale Tollwut —, die Nationalismen würden gleichsam als Ferment in der
Völkergemeinschaft aufgehen und diese zur ständigen Selbsterneuerung treiben. Ganz im
Gegensatz zur nationalsozialistischen Ideologie, die sich auf Nietzsche meinte stützen zu
können, plädiert Nietzsche gerade nicht für Rassentrennung, sondern für deren Vermischung.
Um der „Verdummung Europas und [der] Verkleinerung des europäischen Menschen“
vorzubeugen (Nachlass; KSA 12, 71), sollen die guten europäischen mit den guten
slawischen und schliesslich mit den guten orientalischen Eigenschaften zusammenwachsen.
„Gegen Arisch und Semitisch. — Wo Rassen gemischt sind, der Quell großer Kultur.“ (Ebd.,
45) Nietzsche ist offenbar fest davon überzeugt, dass sich bei einer solchen Mischung in
jedem Fall die guten Qualitäten durchsetzen werden. Und mit dem Absterben der alten
Rassen wird auch das alte Menschenbild absterben. Es wird ein neuer Typus Mensch
entstehen, der Übermensch: ein Mensch, der über den alten Menschen hinaus gelangt ist und
sich völlig neu in seinem Sein als Mensch definiert. Das alte Europa muss jedenfalls nach
Nietzsche untergehen, um den „vereinigten Staaten Europas“ (Nachlass; KSA 8, 348) Platz
zu machen, einem Europa, das Weltverkehr und Welthandel betreibt, das in der Vielzahl
seiner Sprachen dennoch mit einer Stimme spricht und mit der Überwindung des
Nationalismus eine Weltbevölkerung entstehen lässt, die aus lauter Kosmopoliten besteht.
Der „Prozess des werdenden Europäers“ wird von Nietzsche als eine Entwicklung
beschrieben, die „immer mehr in Fluss geräth, — der Prozess einer Anähnlichung der
Europäer, ihre wachsende Loslösung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und
ständisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem
bestimmten milieu, das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib
einschreiben möchte, — also die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und
nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst
und –kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt.“ (Jenseits von Gut und Böse; KSA 5, 182)
 Nietzsche hat zweifellos mit bewundernswerter Klarheit vieles von dem vorausgesehen, was
sich heute, 125 Jahre später zu erfüllen beginnt.

Wir kommen ins 20. Jahrhundert und befragen wiederum ausgewählte Philosophen zu ihrer
Vision Europas. Zwar hat Oswald Spengler nach der Jahrhundertwende in seinem
umfangreichen Werk Der Untergang des Abendlandes (1918-1922) die These vertreten, dass
Europa seine Blüte hinter sich habe und nun dabei sei, zu verwelken, ohne wiederzukehren,
aber Edmund Husserl und sein Schüler Martin Heidegger waren davon überzeugt, dass die
geistige Kraft des Abendlandes erhalten bleiben würde, auch wenn Revisionen unumgänglich
seien. Husserl verbindet mit dem Entwurf einer geistigen Gestalt Europas (Krisis, 319)
ähnlich wie Nietzsche die Heraufkunft einer neuen Menschheitsepoche, deren kulturelle
Errungenschaften den Status übernationaler geistiger Gebilde haben werden. Zwar ist es
nicht eine Utopie des Übermenschen, welche Husserl als Lösung der unsere Lebenswelt
bedrückenden Sinnkrise vorschlägt, wohl aber die Utopie des Philosophen als eines
„Funktionärs“ der Menschheit, der die Philosophie zur universalen Wissenschaft erweitert, auf
deren Basis die Menschheit in den Stand gesetzt wird, ihre Vernunft zu gebrauchen. Hierin
begegnet Husserls Anliegen dem von Novalis, freilich in einer nicht im Rückgriff auf das
Christentum, sondern auf das Potential der Philosophie und ihrer seit jeher erhobenen
Sinnansprüche entfalteten Vision einer befriedeten Weltgesellschaft.

Heidegger hat 1936 in einem Vortrag über Europa und die deutsche Philosophie eine kritische
Bestandsaufnahme gemacht und die Gründe für die Selbstzerstörung Europas dargelegt. Für
ihn ist die europäische Kultur zutiefst fragwürdig, weil sie auf einer Philosophie beruhe, die
ihre Wurzel vergessen hat. „In Hegels Logik vollendet sich der Weg der abendländischen
Philosophie seit Plato und Aristoteles, nicht aber seit ihrem Anfang. Dieser bleibt unbewältigt
und wurde rückläufig immer nur von der abgefallenen Grundstellung aus gedeutet bzw.
missdeutet.“ (Europa, 39) Heideggers Rede von der Seinsvergessenheit der abendländischen
Philosophie gipfelt im Vorwurf der Subjektzentriertheit dieses Denkens, das gleichsam das
Ich umkreiste und dabei das Sein aus dem Blick verlor. Heidegger sieht nicht wie Schiller und
Novalis das Rettende in einer nach vorn in die Zukunft projizierten Erneuerung des
Griechentums bzw. des Christentums, sondern in der Rückkehr zu den Ursprüngen des
Denkens bei den vorsokratischen Philosophen. „Sein und Denken oder Sein und Zeit — das
ist die Frage. Indem wir die Grundfrage der abendländischen Philosophie aus einem
ursprünglicheren Anfang wieder fragen, stehen wir nur im Dienst der Aufgabe, die wir als die
Rettung des Abendlandes bezeichneten. Sie kann sich nur vollziehen als eine
Zurückgewinnung der ursprünglichen Bezüge zum Seienden selbst und als eine Neugründung
alles wesentlichen Handelns der Völker auf diese Bezüge.“ (Europa, 40)

Heidegger blickt also noch weiter zurück als Schiller, Novalis und Husserl, um seine Utopie
einer universalen Interaktionsgemeinschaft auf ein Sinnfundament zu stellen, das in der
durch Seinsvergessenheit charakterisierten Verfallsgeschichte der abendländischen
Metaphysik eine Zäsur ermöglicht, welche das künftige Geschick Europas wieder an seine
wahren Anfänge anzubinden erlaubt. Europa hat etwas zu bewahren, das nicht
unwiederbringlich dahin ist, sondern neu ins Werk gesetzt werden muss. Dazu weist die
Philosophie den Weg, denn „Philosophie ist das fragende Sagen vom Grund des Seyns als
dem Seyn des Grundes aller Dinge.“ (Europa, 34)

Die Frage jedoch, die man nicht nur an Heidegger, sondern auch schon an Novalis richten
kann, ist die nach der Berechtigung, eine aus der Antike wiederbelebte europäische Kultur zu
globalisieren, ohne sich dem Eurozentrismusvorwurf auszusetzen. Wenn die verschiedenen
Kulturen zusammenwachsen sollen, ohne dass daraus unter hegemonialem Druck eine
uniforme Monokultur resultiert, muss — wie Nietzsche dies richtig gesehen hat — eine
interkulturelle Entwicklung in Gang gesetzt werden, die sich am integrativen Konstrukt einer
Weltgemeinschaft orientiert, in welcher nicht nur das je andere „Sagen vom Grund des
Seyns“, sondern auch ein ganz anderes Herkunftsverständnis zu respektieren ist.

Als letzten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts ziehe ich Karl Jaspers heran. Auch er
verwendet 1946 — zehn Jahre nach Heidegger — in seinem Genfer Vortrag Vom
europäischen Geist die Kategorien Ursprung und Ziel, um Herkunft und Zukunft Europas zu
bedenken. Humanismus, Wissenschaft und Technik, germanisch-romanische Kultur und
Christentum haben Europa geprägt. Doch nach zwei Weltkriegen sind diese Errungenschaften
ins Wanken gekommen. Anstatt sie umstandslos preiszugeben und dem Nihilismus Tür und
Tor zu öffnen, schlägt Jaspers vor, in unsere geschichtlichen Ursprünge zurückzukehren, um
herauszufinden, was einst die Stärke dieser Traditionsstränge war und was davon
bewahrenswert ist. Zunächst holt Jaspers weit aus, indem er Europas Entwicklung nicht
isoliert betrachtet, sondern in den Kontext einer weltgeschichtlichen Betrachtung stellt. Dann
stehen neben dem Abendland zwei gleichrangige Kulturen, nämlich die Chinas und Indiens.
Jaspers spricht von einer Achsenzeit um 500 vor Christus: „Es ist die Zeit von Homer bis
Archimedes, die Zeit der grossen alttestamentlichen Propheten und Zarathustras — die Zeit
der Upanischaden und Buddhas — die Zeit von den Liedern des Shiking über Laotse und
Konfuzius bis zu Tschuang-tse.“ (Geist, 61) In dieser Zeit waren, so Jaspers, die drei Welten
einander noch sehr ähnlich, vor allem was das Menschenbild anbelangt. Daher konnten sie
einander verstehen, aller regionalen Unterschiede zum Trotz. Danach gingen aus den
ähnlichen geistigen Ursprüngen in der Achsenzeit unterschiedliche Entwicklungen hervor, die
im Abendland vor allem durch das Christentum beeinflusst wurde. Doch radikale
Unterschiede hätten sich erst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts im Gefolge der Heraufkunft
von Wissenschaft und Technik herauskristallisiert und die Überlegenheit Europas begründet.

Die Frage „Was ist Europa?“ beantwortet Jaspers in einem ersten Schritt durch die
Aufzählung geistiger Koryphäen, ihrer Werke und Orte. „Europa, das ist die Bibel und die
Antike. Europa ist Homer, Äschylus, Sophokles, Euripides, ist Phidias, ist Plato und
Aristoteles und Plotin, ist Vergil und Horaz, ist Dante, Shakespeare, Goethe, ist Cervantes
und Racine und Molière, ist Lionardo, Raffael, Michelangelo, Rembrandt, Velasquez, ist Bach,
Mozart, Beethoven, ist Augustin, Anselm, Thomas, Nicolaus Cusanus, Spinoza, Pascal, Kant,
Hegel, ist Cicero, Erasmus, Voltaire. Europa ist in Domen und Palästen und Ruinen, ist
Jerusalem, Athen, Rom, Paris, Oxford, Genf, Weimar. Europa ist die Demokratie Athens, des
republikanischen Roms, der Schweizer und Holländer, der Angelsachsen.“ (Geist, 63)

In einem zweiten Schritt versucht Jaspers dann das, was er „das Eigentümlichste Europas“
nennt (Geist, 64), zu erläutern, also dasjenige, was gewissermassen die Individualität
Europas, seine Einmaligkeit und Besonderheit ausmacht: nämlich Freiheit, Geschichte und
Wissenschaft. Freiheit definiert Jaspers als Überwindung von Willkür: Nicht das beliebige
Tun- und Lassenkönnen, das in einer Welt knapper Ressourcen immer zum Kampf um Macht
führt, ist ein Indiz von Freiheit, sondern das einvernehmliche, Konflikte kommunikativ
austragende Zusammenleben mit den anderen, deren Freiheit die Grenze meiner Freiheit ist.
Das Ringen der Europäer um Freiheit entzündete sich nach Jaspers immer an Polaritäten, die
dialektisch in Spannung gehalten wurden. Ein starker Ordnungssinn und ebenso starke
revolutionäre Bewegungen mussten miteinander in Einklang gebracht werden. „Die Freiheit
des Europäers sucht die Extreme, die Tiefe der Zerrissenheit. Der Europäer geht durch die
Verzweiflung zum wiedergeborenen Zutrauen, durch den Nihilismus zum gegründeten
Selbstbewusstsein; er lebt in der Angst als dem Stachel seines Ernstes.“ (Geist, 66) Mit der
Freiheit verbunden ist nach Jaspers der Wille zur Geschichte, der es nicht erlaubt, bei einem
erreichten Ziel stehenzubleiben und sich in einem Endzustand zu beruhigen. Dieser Wille zur
Geschichte hat bei den Europäern auch die politische Freiheit gefördert, insofern die
Durchsetzung des Rechts auf Freiheit für alle Personen immer weiter getrieben wurde.
Schliesslich hat der europäische Geist eine Leidenschaft für die Wissenschaften entzündet,
die ebenfalls ihre Wurzel im Streben nach Freiheit hat: „Wissen macht frei“, so Jaspers
(Geist, 70). Im Durchschauen der Dinge entsteht ein anderes Verhältnis zu den Zwängen und
Abhängigkeiten, denen der Nichtwissende ohnmächtig ausgeliefert ist.

Nach diesen Vorerörterungen wendet sich Jaspers der Zukunftsfrage zu: „Was können wir
aus europäischem Selbstbewusstsein wollen?“ (Geist, 73ff.) Er will diese Frage wirtschaftlich
und politisch verstanden wissen: ökonomische Gerechtigkeit und politische Friedenssicherung
sind die Ziele, die er im Auge hat. „Gewalt und Terror“, so Jaspers, sind „die Schrecken der
Menschheit“ (Geist, 74f.), Verbrechen, die durch Unschädlichmachen der Täter bekämpft
werden müssen. Aber er erinnert auch daran, dass Verbrechen Ausdruck von Verzweiflung
über ungerechte Verhältnisse sein können. Umso mehr müsse über die Voraussetzungen
nachgedacht werden, unter denen politisches Handeln seinem Auftrag, Freiheit zu
gewährleisten, nachkommen kann. Jaspers möchte die europäische Idee zur Menschheitsidee
erweitern — allerdings ohne imperialen Gestus. Es gelte eine Weltordnung anstelle einer
Weltherrschaft zu etablieren, eine globale Ordnung, die auf dem Freiheitsprinzip und dem
Prinzip der Solidarität aller gegen Gewalt beruht. Der die Kontinente trennende religiöse
Glaube dürfe nicht verabsolutiert werden. Der einzige Glaube, den Jaspers für zulässig
erklärt, ist der Glaube an die Kommunikation freier Wesen — über alle Grenzen und
ideologischen Schranken hinweg. Dass eine solche Kommunikation möglich ist, hat für
Jaspers seinen Grund in der Achsenzeit als jenem allen Völkern gemeinsamen geistigen
Ursprung, der im ersten Jahrtausend vor Christus eine globale Kommunikationsgemeinschaft
ermöglichte. Die Europäer müssen sich auf diesen Ursprung zurück besinnen und sich
zugleich menschheitstauglich machen, indem sie die Errungenschaften des abendländischen
Geistes nicht ins Museum sperren, gleichsam um „einen Naturschutzpark alter Kenntnisse,
Sprachen, Werke, Gebärden in Europa zu konservieren“ (Geist, 80), sondern diesen Geist
gerade in Erinnerung an seine Grösse und seine Leistungen transformieren. Jaspers spricht
von einer „Metamorphose der biblischen Religion“ (Geist, 82) — nicht wie Novalis des
Christentums. Die Bibel ist für ihn „das Depositum eines Jahrtausends menschlicher
Grenzerfahrungen“ (83), und in der Mitte des 20. Jahrhunderts sieht er vor allem in den
Bemühungen existenzphilosophischer Denker Ansätze zum Entwurf einer gemeinsamen
Lebenspraxis, die sich drei Geltungsansprüchen verpflichtet weiss: 1. grenzenlose
Kommunikation von Mensch zu Mensch; 2. sachangemessenes, vorurteilsfreies Denken; 3.
Liebe als grundlegendstes zwischenmenschliches Prinzip. Jaspers beschliesst seine
Ausführungen mit dem Satz: „Auch Europa ist nicht das letzte für uns. Wir werden Europäer
unter der Bedingung, dass wir eigentlich Menschen werden — das heisst Menschen aus der
Tiefe des Ursprungs und des Zieles, welche beide in Gott liegen.“ (Geist, 85) Wie für Novalis
sind demnach auch für Jaspers die Wurzeln des Menschlichen religiöser Natur, aber seine
Utopie Europas beruht nicht auf dem christlichen Gott. Er plädiert für einen philosophischen
Glauben anstelle des Offenbarungsglaubens, der einen Exklusivitätsanspruch erhebt und
damit andere Religionen ausschliesst.

Versuchen wir abschliessend ein kurzes Resümee. Die von mir vorgestellten Dichter und
Denker verstehen Europa in erster Linie nicht als einen politischen Verbund. Sie entwickeln in
ihren Utopien der vereinigten Staaten Europas keine Modelle für eine gemeinsame
Verfassung, ein gemeinsames Recht, eine gemeinsame Wirtschaft. Trotzdem sind ihre
Konstrukte nicht unpolitisch, denn sie denken grundlegender und arbeiten die normative
Basis, die ethische Grundlage heraus, auf welcher politisches Handeln seine Legitimation
findet. Dies tun sie nicht in weltfremder Distanz von jeglicher Realität, sondern in kritischer
Rückwendung auf die geistigen Wurzeln Europas und die kulturellen Objektivierungen dieses
Geistes in den letzten zweieinhalb Jahrtausenden. Sie suchen nach allgemein verbindlichen
Prinzipien, die eine Erweiterung des Modells Europa zu einem Weltmodell rechtfertigen, weil
es sich um Prinzipien handelt, die allgemeinmenschlich sind und daher jedem politischen
Gebilde zugrunde liegen müssen. Bei aller Verschiedenheit der von Schiller bis Jaspers zur
Darstellung gekommenen Entwürfe eines künftigen Europa gibt es eine Überzeugung, die sie
teilen: Was Europa ist, verdankt sich nicht den politischen Führern und Staatsmännern, nicht
den Tat- und Machtmenschen, die durch ihre Entscheidungen Kriege angefangen, Länder
erobert und zerstört haben, Reiche aufgebaut und wieder verloren haben. Ganz im Gegenteil
waren es Menschen des Geistes, die die unsichtbaren Fäden der Geschichte gesponnen
haben. Der Geist und seine Kunstprodukte ist es, so ihre These, der die Welt bewegt, Neues
schafft und Orientierung bietet für eine menschenwürdige Zukunft.

Zitierte Autoren

Das sogenannte “Älteste Systemprogramm”, in: Materialien zu Schellings philosophischen
Anfängen, hg. v. M. Frank u. G. Kurz, Frankfurt 1975, S. 110-112

Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Hamburg 1959

Heidegger, M.: Europa und die deutsche Philosophie, in: Europa und die Philosophie, hg. v.

H.-H. Gander, Frankfurt 1993, S. 31-41

Husserl, E.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale
Phänomenologie, den Haag 1962

Jaspers, K.: Vom europäischen Geist, in: ders.: Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte
Aufsätze zur Philosophie, hg. v. H. Saner, München/Zürich 1996, S. 59-85

Schiller, F.: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 1975

Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, München
1980

Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: Das philosophische Werk II = Schriften, 3. Band,
Stuttgart 1960, S. 507-524

Spengler, O.: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der
Weltgeschichte, 2 Bde., München 1973

Die Autorin Annemarie Pieper, Prof. Dr. phil., 1981-2001 ordentliche Professorin für
Philosophie an der Universität Basel. Lehrgebiete: Probleme der allgemeinen und speziellen
Ethik, klassische Existenzphilosophie und französischer Existenzialismus,
transzendentalphilosophische Denkansätze und Utopien. Publikationen der letzten Jahre: Gibt
es eine feministische Ethik?, München 1998. Søren Kierkegaard, München 2000;
Glückssache. Die Kunst, gut zu leben, Hamburg 2001.

Der Beitrag erschien in der Publikationsreihe der BASLERSCHRIFTEN zur europäischen
Integration Nr.59B des EUROPAINSTITUT der Universität Basel
Europainstitut der Universität Basel
http://www.europa.unibas.ch

 

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