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Je mehr wir wissen.......

von Bernhard von Mutius

Je mehr wir wissen, desto weniger scheinen wir weiterzuwissen. Nur wenige Jahre nach der mit so großem Wissensoptimismus und so vielen Zukunftsverheißungen gefeierten Jahrtausendwende ist allenthalben Ernüchterung eingetreten. Trotz neuer Informationstechnologien und reichhaltig sprudelnder Wissensquellen sind wir augenscheinlich nicht klüger geworden. Die verfügbaren Expertisen von Globalisierungsexperten und internationalen ThinkTanks haben nicht dazu beigetragen, die Welt friedfertiger zu machen. Der gewachsene Sachverstand von Wirtschaftsweisen und Beratern hat der Ökonomie nicht dazu verholfen, sich in stabileren Bahnen zu entwickeln.

In den vergangenen Jahrzehnten jedoch wurden in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, Forschungs- und Lehreinrichtungen fruchtbare neue Denkansätze und Lösungsmethoden entwickelt, die für das Verstehen komplexer sozialer Entwicklungen und für ihre verständige Gestaltung einen erheblichen Zugewinn bedeuten. Sie stammen beispielsweise aus der Komplexitätsforschung und aus den Kognitionswissenschaften, aus der Hirnforschung, aus den Systemtheorien und aus der systemischen Therapie und Beratung, aus neueren philosophischen, ökonomischen und kulturwissenschaftlichen Arbeiten sowie aus der Selbstreflexion der Künste und der Literatur -um nur einige Ausschnitte des Spektrums zu nennen.

Zumeist werden sie nur vereinzelt wahrgenommen, nicht interdisziplinär in ihren inneren Zusammenhängen behandelt und nicht mit den übergreifenden Gestaltungsaufgaben in Wirtschaft und Gesellschaft verbunden.

Nicht nach einer neuen, großen, allumfassenden und alles erklärenden Einheitstheorie sollten wir suchen, sondern nach einer Verständigung über Disziplingrenzen hinweg. Gebraucht werden keine Modelle, die Atome und Gene, Synapsen und Symbole in eins setzen, sondern Metaphern und Beschreibungen, die sie in Beziehungen setzen -im Bewußtsein, dass die Technologik einer "Humanologik" als Ergänzung bedarf. Das würde, wie ich es an anderer Stelle einmal formuliert habe, bedeuten, auf respektvolle Weise "Elektron und Elektra zusammenzudenken, bei der Beschäftigung mit den Bewegungen der Elementarteilchen zugleich die Erinnerung an die elementaren Regungen des Menschen wachzuhalten".

Nötig scheint mir deshalb keine künstlich geschaffene "3. Kultur" von Wissenschaften, die sich allmächtig dünken und auf andere Denkweisen herabsehen, sondern eine neue Denkkultur, die in Bescheidenheit andere, auch nichtwissenschaftliche Sichtweisen achtsam einbezieht.

Manchmal kommt es mir im Rückblick so vor, als hätten wir in der Vergangenheit über die Beschäftigung mit den Wissenschaften und ihren Theorien das Denken
vergessen. Wäre es jetzt nicht Zeit für eine Korrektur?

Dr. Bernhard von Mutius, Sozialwissenschaftler und Publizist, Potsdam und Mitglied des Beirates des FORUM46. Dieser Beitrag ist im Rahmen der FORUM46-Broschüre 2008 veröffentlicht worden.

 

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