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PERIPHERIE

Wie das Aussen das Innen definiert?

Eine Frage, mit der sich Gäste und Teilnehmer am 23. März 2006 im
Interdisziplinären Salon für Europa auseinadersetzten. Das FOURM46
verstaltete den dritten Salon in Koopertion mit dem Finnland Institut Berlin.

 

Die Diskussionsrunde

René Nyberg
Botschafter von Finnland in Deutschland

Mascha Join-Lambert
Haus Neudorf e.V., Forum für Europas Gemeinschaft

Prof. Dr. Herfried Münkler
Politikwissenschaftler, HU Berlin

Zoran Terzic
Künstler und freier Forscher

 

Moderation

Dr. Hagen Schulz-Forberg
FORUM46 - Interdisziplinäres Forum für Europa e.V. 

 

Leitfragen

Wie definiert das Aussen das Innen? Welche Wechselwirkung ist Strukturen von Peripherie und Zentrum eigen? Welche Auswirkungen hat die Differenzierung von Peripherie und Zentrum für Europa? Gibt es zwischen den scheinbar gegensätzlichen Welten von Peripherie und Zentrum Bereiche, die uns verborgen sind?

 

Publikation zum Thema

Vertiefen Sie das Salonthema anhand von Essays, Reportagen und Tipps
aus unserem Magazin >>> E.I.Q Peripherie

Autoren der Ausgabe sind u.a.:

Kasia Marszewska, Aleida Assmann, Piotr Michalowski, Louis Klein, Simon Pfersdorf, Matthias Grether, Mascha Join-Lambert, Robert Krzeminski, René Nyberg, Eberhard von Goldammer, Rudolf Kaehr, Birgit Böhm, Christine von Blanckenburg, Dariusz Radtke, Hagen Schulz-Forberg, Jacob Schilling,
Mareike Hölter

 

Peripherie – Wie das Aussen das Innen definiert.

Impulsreferat zum Salon

Von Herfried Münkler

Die Schaffung einer politischen Ordnung beginnt damit, dass die von ihr erfassten Räume abgesteckt, eingegrenzt, also definiert werden. Wie jede Ordnungsstiftung nimmt auch die der Politik ihren Anfang mit Grenzziehungen. Selbstverständlich verfügt die Politik nicht allein über die Räume, sondern muss sich diese Aufgabe mit anderen Ordnungsstiftern teilen. Demgemäß erfolgen politische Grenzziehungen nicht nach Belieben, jedenfalls nicht nach dem Belieben der politischen Entscheider. Kulturelle, wirtschaftliche, religiös-konfessionelle Zusammengehörigkeiten wie Gegensätze spielen beim Grenzziehen eine Rolle, und wenn sie von der Politik notorisch missachtet werden, scheitert diese. Die Grenzziehungen des Ost-West-Gegensatzes sind ein Beispiel dafür.

Bei der Definition von Territorien und ihren Grenzen haben die Geographen ein gewichtiges Wort mitzureden. Nicht selten ist durch die physische Geographie klar, was ein zusammenhängender Raum ist und wo seine Grenzen sind, was dazugehört und was nicht. Der Doppelkontinent Amerika ist etwa ein zusammenhängender geographischer Raum, oder Australien, oder auch Afrika. Aber Europa? Europa ist ein Kontinent mit unklaren Grenzen, insbesondere was seine östliche Grenze anbetrifft. Hier können auch die Geographen der Politik keine verbindlichen Hinweise geben; eher hat es den Anschein, dass sie bereit sind, den Vorgaben der Politik zu folgen. So wurde von griechischen Geographen in der Antike die Ostgrenze Europas auf den Don (Tanais) festgelegt, und diese Festlegung hatte bis in die Frühe Neuzeit Bestand. Aber dann „öffnete“ Zar Peter Russland nach Europa, und in Anerkennung der petrinischen Reformen wurde von den Geographen nunmehr die europäische Ostgrenze zur Wolga und zum Ural vorverlegt. Russland war damit auch in geographischer Hinsicht ein Bestandteil Europas geworden.

Das Zusammenspiel von Politik und Geographie ist also um einiges komplizierter, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Manchmal folgt die Politik der Geographie, gelegentlich ist es auch umgekehrt, und in der Regel überlagern sich beide. So waren die geographisch voneinander separierten Räume Amerika und Europa bis ins 18./19. Jahrhundert durch die Kolonialherrschaft der Spanier, Portugiesen, Briten und Franzosen miteinander politisch verbunden, und mit dem Beginn des Ost-West-Gegensatzes nahmen sie unter dem Oberbegriff des „Westens“ wieder die Gestalt eines politisch-kulturellen kohärenten Raumes an. Ähnlich waren in der Antike, zumindest in der Zeit des Imperium Romanum, die drei Kontinente Asien, Europa und Afrika Bestandteile eines in sich geschlossenen politisch-kulturellen Raumes. Die Grenzen zwischen den Kontinenten spielten für die Ordnung des imperialen Raumes keine Rolle. Die ausschlaggebenden Grenzen folgten nicht geographischen, sondern politischen Vorgaben, und diese trennten quer durch die Kontinente hindurch die imperiale Wohlstandssphäre von dem außenliegenden Barbaricum.

Die Geographie zieht Grenzen, aber die Politik definiert die Räume. Heißt: Der Geograph sondert und gruppiert nach seinen Regeln und Beobachtungen, aber die Politik schafft das Innen und Außen. Politisch gesehen bedeutet Grenzziehung nämlich vor allem ein- und ausgrenzen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine betrübliche Fehlleistung vergangener Politik, die in Zukunft vermieden werden sollte, sondern dies ist ein zentraler Bestandteil jeder politischen Ordnung. Ohne die Unterscheidung von Innen und Außen wird man nicht von einer politischen Ordnung sprechen können. Die Unterscheidung von Innen und Außen kann stärker und schwächer ausgeprägt sein, sie kann stufenweise, fließend oder abrupt erfolgen, aber sie muss prinzipiell erkennbar sein, wenn von einer politischen Ordnung die Rede sein soll. Die Trennung von Innen und Außen ist die fundamentale politische Ordnungsleistung. Auf ihr baut alles auf. Sie erst ermöglicht Orientierung und schafft Handlungssicherheit. Man könnte auch sagen, die Unterscheidung von Innen und Außen sei der politische Gründungsakt per excellence. Am deutlichsten zeigt sich das in der Erzählung von Städtegründungen. Die Gründung einer Stadt beginnt mit der Festlegung einer Grenze bzw. der Errichtung einer Mauer, durch die Innen und Außen voneinander unterschieden werden. Wer diese Grenzziehung in Frage stellt, ist der Feind. Wer infolge der Grenzziehung außen ist, ist der Andere, nicht selten der Fremde, deswegen aber keineswegs der Feind. Der Feind kann vielmehr von Innen und von Außen kommen. Er wird dadurch zum Feind, dass er die Verbindlichkeit der Innen/Außen-Unterscheidung anzweifelt oder bestreitet. Romulus tötete seinen Zwillingsbruder Remus, als dieser die von Romulus errichteten, aber noch niedrigen Mauern Roms lachend übersprang. Solche Grenzziehungen erheischen Respekt. Wer ihn versagt, ist ein Feind, denn er zieht die erste und grundlegende Ordnungsleistung der Politik in Zweifel.

Solche Grenzziehungen sind in jüngster Zeit eher negativ wahrgenommen worden. Als positiv wurde hingegen das Niederreißen von Grenzen, zumindest deren Aufweichung und Durchlöcherung angesehen. Das freilich ist eher eine Reaktion auf die speziellen Grenzziehungen des Ost-West-Konflikts als auf die Ordnung der Grenze generell. Das zeigt sich im Umgang mit dem, was wir gewöhnlich unter dem Begriff der Globalisierung zusammenfassen: Allgemein lässt sich darunter ein Bedeutungsverlust politischer Grenzen und ein korrespondierender Bedeutungsgewinn wirtschaftlicher und kultureller Grenzen verstehen. Dagegen ist Widerstand entstanden, weil, so die Globalisierungskritiker, die Gewichtsverschiebung von der Politik zur Wirtschaft auf einen Verlust an demokratischer Kontrolle hinauslaufe. Darüber mag man im Einzelnen streiten. Für die hier verhandelte Frage nach Grenzziehungen ist relevant, dass einsinnig verlaufende „Entgrenzungen“ offenbar der ganz unwahrscheinliche Fall sind, sondern sich hinter solchen „Entgrenzungen“ in der Regel Gewichts- und Bedeutungsverschiebung zwischen unterschiedlichen Grenzen verbergen. Sie gehen zumeist mit Einfluss- und Machtverschiebungen innerhalb der Gruppe möglicher Grenzzieher einher. Und schließlich sind sie nicht selten mit der Ablösung kleinräumlicher zu großräumlicher Ordnungen verbunden. Aber damit verschwinden die Grenzen nicht; sie geraten allenfalls aus dem aufs Nahe gebannten Blick.

Unbehagen und Missfallen gegenüber Grenzziehungen reichen jedoch tiefer. Sie kreisen um den Vorwurf der Willkürlichkeit und kritisieren die mit jeder Grenzziehung erfolgende Ausgrenzung, die Exklusion, durch die im Innern des so eingegrenzten Raumes Exklusivität hergestellt werde. Gegen diese Effekte der Grenzziehung wird die normative Orientierung an universeller Einheit und generalisierter Zugehörigkeit ins Feld geführt. In den 1990er Jahren sind die aus der Erfahrung des Ost-West-Gegensatzes erwachsene Freude über das Niederreißen von Grenzzäunen, die Dynamik eines sich verdichtenden Welthandels und die Normperspektive der Universität zusammengeflossen und haben sich gegenseitig verstärkt. Aber diese Euphorie ist schnell zu Ende gegangen und die Stimmung ist wieder umgeschlagen. Was vor kurzem noch als eine Befreiung von den Bedrängnissen und Lästigkeiten der Grenzen erschien, wird inzwischen als eher bedrohlich perzipiert. Es hat eine Wiederentdeckung der produktiven Leistungen von Grenzen stattgefunden. Sie ist teilweise aus bloßer Angst vor der Entgrenzung, teilweise aber auch aus Einsicht in die Ordnungsleistung von Grenzen erfolgt. An der Debatte über die zukünftige EU-Erweiterung und die Finalität Europas lässt sich das gut erkennen. Retrospektiv stellt die Debatte über den EU-Beitritt der Türkei den Wendepunkt von der Inklusions- zur Exklusionshegemonie dar. Von nun an war nicht mehr die Aussicht auf den Beitritt weiterer Mitglieder zur EU ausschlaggebend, sondern die Erwartung, dass das verfasste Europa nur dann Bestand haben werde, wenn es sich politisch begrenze.

Gerade am Beispiel der EU-Erweiterungsdebatte kann man beobachten, wie die Peripherie aufs Zentrum zurückwirkt. Als sich das Außen immer weiter entfernte, hat sich das Innen mit einem Mal auf seine Exklusionsidentität besonnen. Der wachsende Abstand der Peripherie gegenüber dem Zentrum hat dazu geführt, dass sie vom Zentrum im Auge behalten werden sollte, wohingegen von der Peripherie her, wo man die Last der Grenzziehung zu tragen hatte und von deren Nutzen wenig verspürte, immer wieder der Wunsch nach einem weiteren Hinausschieben der Grenzen, also einer Entperipherisierung der Peripherie, geäußert wurde. Nun ließe sich vermuten, dass damit das Gegenteil des im Titel Annoncierten beschrieben wird: Wie nämlich das Zentrum die Ränder festlegt und unter Kontrolle behält, das Innen also das Außen definiert – und nicht umgekehrt. Das wäre dann ein Ergebnis ganz entgegen dem kontraintuitiven Charme der Titelvorgabe: Wenn das Zentrum die Ränder beherrsche, so entspricht das genau dem, was wir intuitiv erwarten, während eine Definitionskompetenz des Außen gegenüber dem Innen das Unerwartete und Überraschende ist. Wir sollten also noch einmal genauer hinschauen.

Grenzen sind nicht gleich Grenzen: Es gibt hohe und unüberschreitbare Grenzen, und es gibt Grenzen, die eher nur eine Markierung von Übergängen sind. Wir sollten die Beobachtung solcher Unterschiede jedoch nicht auf einen Entwicklungsprozess beziehen, sie also nicht in eine zeitliche Abfolge bringen, die dann als Rückschritt oder Fortschritt charakterisiert werden kann, sondern sollten uns auf die strukturellen Effekte hoher und niedriger Grenzen konzentrieren. Jede hat ihre Funktion, und die wird durch die Art der Ordnung festgelegt, in der sie wirksam wird. Eingangs wurde bereits erwähnt, dass es viele und unterschiedliche Grenzen gibt: geographische, kulturelle, sprachliche, konfessionelle bzw. religiöse, ökonomische, politische usw. Für die Art der Grenzziehung, also die Ausgestaltung der Unterscheidung von Innen und Außen, ist dabei ausschlaggebend, wie sich diese Grenzen zueinander verhalten: ob sie gebündelt oder diversifiziert werden.

Etwas vereinfacht wird man sagen können, dass für Nationalstaaten die intensivierte Form der Grenzbündelung typisch ist, während Imperien die Diversifikation von Grenzen betreiben. Die Grenzen der Staaten sind scharf gezogen und dadurch gekennzeichnet, dass jenseits ihrer ein anderer Staat ist. Das Verhältnis zwischen den aneinandergrenzenden staatlichen Nachbarn ist dementsprechend eines der Reziprozität. Dagegen sollte man bei imperialen Grenzen eher von Grenzräumen sprechen, in denen sich die Ordnung allmählich verliert, ohne dass jenseits dieser Räume eine nach denselben Prinzipien strukturierte Ordnung beginnt. Demgemäß besteht hier auch kein Reziprozitätsverhältnis zwischen gleichartigen politischen Akteuren, sondern der Grenzraum steht für die Differenz zwischen Imperium und Barbaricum. Jenseits der Grenze liegt die Wildnis, jenes Gebiet, das bei den Römern mit „Ubi sunt leones“ bezeichnet wurde. Zwischenstaatliche Grenzen bezeichnen den Unterschied zwischen Anderen; die durch die Grenze voneinander Unterschiedenen sind prinzipiell gleich und anerkennen sich gegenseitig auch als solche. Das heißt freilich nicht, dass sie Freunde sind; gerade ihre Ähnlichkeit kann dazu führen, dass sie einander in erbitterter Feindschaft gegenüberstehen. Dagegen stehen imperiale Grenzen für den Übergang zum Fremden: Was jenseits der Grenze ist, ist grundsätzlich anders, und von einer gegenseitigen Anerkennung als Gleiche kann nicht die Rede sein. Das aber heißt nicht, dass die Fremden prinzipiell als Feinde angesehen werden. Gerade die großen Unterschiede können zu einem Verhältnis produktiver Kooperation und nützlichen Austauschs führen. Dieses Verhältnis ist jedoch immer eines der Hierarchie: Das imperiale Zentrum gibt den Rahmen vor, an dem sich die Akteure der Peripherie zu orientieren haben. Peripherie und Zentrum unterscheiden sich durch ihre ungleiche Rahmungskompetenz.

Ob es sich bei einem politischen Akteur also um einen Staat handelt, der in eine polyzentrisch-pluriverse Staatenwelt eingebettet ist, oder um ein Imperium, das allenfalls Satelliten in seiner Umgebung weiß, lässt sich somit am ehesten an den Grenzen beobachten. Wer sich nur im jeweiligen Zentrum aufhält, wird womöglich keinen auffälligen Unterschied feststellen und dementsprechend keine zuverlässige Antwort geben können. Die Metropolen der Staaten und der Imperien ähneln einander zu sehr. Wer sich jedoch an den Grenzen aufhält, wird den Unterschied sogleich feststellen. Und hat er den Unterschied zwischen Imperium und Staat hier erst einmal beobachtet, so wird er ihn auch im Zentrum wieder antreffen. Imperiale Metropolen entwickeln nämlich eine besondere Form zivilisatorischer Ausstrahlung, die weit über die Grenzräume des Imperiums hinaus in die Peripherie reicht, um dort Bewunderung hervorzurufen und Gefolgschaft zu mobilisieren. Diese von imperialen Metropolen ausgehende zivilisatorische Attraktivität ist ein wesentlicher Faktor in der Herrschaftslogik von Imperien. Sie gehört in den Bereich dessen, was man im Anschluss an den amerikanischen Politikwissenschaftler Joseph Nye heute als „soft power“ bezeichnet.
So zeigt sich bei genauerem Hinsehen nun doch, in welcher Weise das Außen das Innen definiert – zumindest ist das Außen keine abhängige Variable des Innen, sondern steht mit diesem in einem Verhältnis der Interdependenz. Es ist aber auch deutlich geworden, dass von Peripherie im strikten Sinn nur bei imperialen, nicht bei zwischenstaatlichen Grenzen gesprochen werden kann. Die plurivers-polyzentrische Ordnung der Staatenwelt, die modelltheoretisch einem Wabensystem ähnelt, erlaubt keinen Blick von der Peripherie aufs Zentrum, weil jede mögliche Peripherie selbst Raum eines anderen Zentrums ist. Das ist bei imperialen Ordnungen anders, insofern sich hier der die Integration bzw. Inklusion in Kreisen und Ellipsen vom Zentrum zum Rand hin abschwächt, um sich in der Peripherie allmählich zu verlieren. In diesem Sinne kennen Imperien auch keine schroffen Grenzen, sondern ihr Ordnungsanspruch verdünnt sich von den Rändern zur Peripherie hin. Dementsprechend gibt es hier ein Außen, das nicht zugleich auch ein Innen ist.

Der Unterschied zwischen staatlichen und imperialen Grenzen kommt daher, dass die Ordnung der Staatenwelt eine grundsätzliche Tendenz zur Grenzbündelung hat, während Imperien die Diversität politischer und kultureller, sprachlicher und wirtschaftlicher, religös-konfessioneller und ethnischer Grenzverläufe beibehalten, wenn nicht gar verstärken. Eine solche Diversifizierung ist mit dem Wabenmodell der Staatenwelt nicht vereinbar; sie wäre ein Element der Unordnung in einem auf Klarheit und Eindeutigkeit angelegten System. So verliefen in der Entstehungsphase des europäischen Staatensystems im 16./17. Jahrhunderts viele Grenzlinien quer zu den politischen Grenzen oder waren mit ihnen nicht deckungsgleich. Aber je länger dieses Staatensystem Bestand hatte, desto mehr kam es zur Grenzbündelung: Das Überschreiten politischer Grenzen wurde zum Überschreiten wirtschaftlicher Grenzen, und schließlich wechselten an diesen Grenzen auch Kultur und Sprache. Diese Grenzbündelung war freilich nur möglich durch die Anwendung von Zwang und Gewalt, Repression an den Randgebieten der Staaten und nicht zuletzt durch Grenzverschiebung mit den Mitteln kriegerischer Gewalt. Das mit der Französischen Revolution einsetzende Bestreben, die kulturelle Ordnung der Nation und die politische Ordnung des Staates zur Deckung zu bringen, den Staat also in den Nationalstaat zu verwandeln, hat die Mobilisierungsfähigkeit der Staaten im Innern und ihr Gewaltpotential nach außen dramatisch erhöht und im Ersten Weltkrieg schließlich zur Katastrophe dieser Ordnung geführt.

Das Projekt der europäischen Integration, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg in Gang gesetzt wurde, gründete sich auf eine Entflechtung der zusammengefassten Grenzlinien und ihre schrittweise Rediversifizierung. Den Anfang dazu machte die Montanunion, mit der die wirtschaftlichen Grenzen im Kohle- und Stahlbereich von den politischen Grenzen der beteiligten Staaten gelöst wurden. Man kann die Entwicklung des geeinten Europa während der letzten fünfzig Jahre als einen schrittweisen Prozess der Grenzdiversifizierung verstehen, der gegenwärtig darin seinen Ausdruck findet, dass der politische Raum der Europäischen Union nicht identisch ist mit dem Schengen-Raum, und der wiederum sich vom Euro-Raum unterscheidet. Das Problem ist freilich, dass wir durch das Ordnungsmodell des Nationalstaates so stark geprägt sind, dass wir dies als Unordnung wahrnehmen, die wir nur interimistisch zu akzeptieren bereit sind. Dementsprechend sind die programmatischen Texte über die Finalität Europas durch die Perspektive enger neuerlicher Grenzbündelung gekennzeichnet, während diejenigen, die sich die europäische Zukunft nicht als die eines neuen, größeren Nationalstaates vorstellen wollen, auf dem Fortbestand der alten Grenzbündelungsstrukturen unterhalb der alles überwölbenden Wirtschaftsgemeinschaft bestehen. Entflochtene Grenzen als Ordnung zu denken fällt offenbar unendlich schwer.
Inzwischen mehren sich die mit der Grenzbündelung verbundenen Probleme: Der Binnenraum des nach der jüngsten mitteleuropäischen Erweiterungsrunde deutlich größeren Europas lässt sich nicht so vereinheitlichen, wie dies bei den Nationalstaaten der Fall ist. Und die harten Außengrenzen der EU wecken bei den auf diese Weise Exkludierten das dringliche Bedürfnis, so bald wie möglich ebenfalls dem politisch-wirtschaftlichen Raum der Europäischen Union anzugehören. Dementsprechend hoch ist der Druck zu immer neuen Beitrittsrunden, die sich die EU aber weder politisch noch wirtschaftlich leisten kann. Die Lösung dieses Problems besteht darin, die Grenzen nach dem imperialen Modell der Diversifizierung abzuflachen. Das heißt dann freilich auch, dass die bisherige Alternative zwischen Vollmitgliedschaft und Assoziation sehr viel stärker pluralisiert werden muss. Die Peripherie muss als solche vom Zentrum her gestaltet werden. Aber die Art dieser Gestaltung ist nicht ins Belieben des Zentrums gestellt, sondern hat nach der Maßgabe zu erfolgen, dass die Ränder wie die Peripherie eine Chance haben, dies dauerhaft zu bleiben und sich nicht als Durchgangsstationen eines sich permanent ausdehnenden politischen Raumes begreifen müssen. Dann hat das Außen zumindest partiell auf die Definitionskompetenzdes Innern Einfluss genommen.

 

 

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