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Am 29. November 2007 luden das FORUM46 zusammen mit der Humboldt-
Viadrina School of Governance zum VII. Interdisziplinären Salon für Europa.

Das Thema des Abends:

ZWISCHENRÄUME II

Wir sind Zwischenräume?

 

Die Diskussionsrunde

Prof. Dr. Czeslaw Porebski
Philosoph, Uniwersytet Jagiellonski Krakow, Polen

Prof. Michael Bielicky
Videokünstler, Staatliche Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe, Tschechien

Maria Reinecke
Autorin, Berlin

Prof. Dr. Christiane Floyd
Informatikerin, Universität Hamburg

Prof. Dr. Andreas Nebelung
Agrarsoziologe, Universität Giessen

Prof. Dr. Günter Küppers
Physiker, Universität Bielefeld


Moderation

Volker Panzer
ZDF Nachtstudio

 

Wie erfahren wir unsere Umwelt "dazwischen"?

Von Dariusz Radtke & Hagen Schulz-Forberg, FORUM46

"Es war einmal ein Lattenzaun, mit Zwischenraum hindurchzuschaun.
Ein Architekt, der dieses sah, stand eines Abends plötzlich da -
und nahm den Zwischenraum heraus und baute draus ein großes Haus."
- Christian Morgenstern

…Am Anfang waren Zwischenräume. Gedankliche Bruchstellen, Lücken, Metaphern, Übergänge, die Frage nach Verbindendem, die nach der Emanzipation der Leerstellen, nach der Kategorie der Relation. Unser lebensweltlicher Aufenthalt, die ästhetischen Wahrnehmungen, die Gesamtheit unserer Veräußerungen und Verinnerlichungen, Kultur und Natur weisen ununterbrochen auf die Möglichkeit eines Dazwischen hin.

In den Zwischenräumen liegt das Innovationspotential und wartet darauf, gefunden zu werden. Die Zwischenräume sind jene Räume, in denen sich Ideen manifestieren, in denen sich die Gründe für Unterscheidungen finden. Es sind aber auch Räume, in denen neue Ideen gefunden werden. Zwischenräume sind die unsichtbaren Speicher unserer Kreativität, unserer Sinngebung und unserer Denkmöglichkeiten. Sie haben auch die Eigenschaft, sich stets zu verändern und mit neuen Ideen und Bedeutungen gefüllt zu werden. Innovationen liegen aber nicht faul in Zwischenräumen herum und der Mensch hat nichts weiter zu tun, als sie von dort abzuholen. Zwischenräume müssen immer neu geschaffen werden, damit immer neue Ideen entstehen können.

Zwischenräume als Ort der Innovationsgenese bedeutet die Akzeptanz von Unsicherheiten. Ein Ideensystem, funktioniert es einmal, wieder aufzugeben, stets zu erneuern und somit zu verändern, ist eine Herausforderung; für das Denken, für unsere Bequemlichkeit, für unser menschliches Sicherheitsgefühl. Wie erfahren wir uns und unsere Umwelt "dazwischen"? Zwischen dem, was wir unterschieden haben? Wie sieht die Welt in ihren Zwischenräumen aus, in denen die Unbestimmtheiten wuchern, auf denen wir unsere Sicherheiten und Bestimmungen bauen?

Das Erkennen der Bedeutung von Zwischenräumen ist jedoch nur der erste Schritt. Schließlich gilt es, mit Neugierde und Selbstbewusstsein diese Räume zu durchschreiten. Wie lassen sich theoretische Einsichten, Denkansätze von KünstlerInnen, ManagerInnen, WissenschaftlerInnen und Vertretern der Religionen zu Zwischenräumen anwendungsbezogen in die Praxis umsetzen?

Einer der originellsten Denker, der entscheidende Impulse zum Denken in – oft poetischen – Metaphern lieferte, ist der Anthropologe, Sozialwissenschafter und Kybernetiker Gregory Bateson. Heinz von Foerster und Christiane Floyd bezeichneten ihn sogar als den vielleicht größten Magus unserer Zeit. Für Bateson waren Geschichten, Parabeln und Metaphern wesentliche Ausdrucksweisen menschlichen Denkens, des menschlichen Geistes überhaupt. Obwohl er ein abstrakter Denker war, befasste er sich jedoch niemals rein abstrakt mit einer Idee, sondern konkretisierte sie immer durch eine kleine Geschichte. Die wichtige Rolle solcher Geschichten in Batesons Denken ist eng mit der Bedeutung der Zusammenhänge verknüpft. Müsste man die Botschaft, die Bateson vermitteln wollte, in einem Wort beschreiben, dann wäre es: „Zusammenhänge“. Die Abkehr von Objekten und leidenschaftliche Hinwendung zu Zwischenräumen.

Wir möchten die Kategorie der „Zwischenräume“ erforschen und Zusammenhänge sehen lernen. Dabei befinden wir uns auf der Suche nach Möglichkeiten der Übertragung von Denkformen – Gedanken an den Nahtstellen zwischen Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft in Europa, der Suche nach der verbindenden Matrix – in der sich die Dialogik entfalten kann und in der wir Muster, Beziehungen, Zusammenhänge sehen lernen (Foerster und Floyd, 1998). Wir wollen versuchen, den Diskurs um gemeinsame dialogische Verfahren (Dahm, 2006) zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen mitzubestimmen. Um dies zu erreichen, werden wir „Durchgangs-Orte aufsuchen müssen, […] wo die linearen Relationen zerrütten und der Strom der Zeit nicht mehr zum Ende fließt.“ Nach Heinz von Foerster, der Leitfigur interdisziplinärer Forschung, dem europäischen Querdenker und Grenzgänger zwischen Biologie, Physik und Philosophie, müssen wir, um die Zwischenräume verstehen zu lernen, selbst ein Teil der Zwischenräume werden. Man muss zu einem Teil des Systems werden, das man beobachten möchte. Was sollten wir sonst sein?

ZWISCHENRÄUME SCHLAGEN ZURÜCK.
Eine begriffliche Annäherung an die schwer fassbare Kategorie mündet zwangläufig in Paradoxien, deren Ursprünge in den begrenzten Möglichkeiten unserer Wahrnehmung selbst zu suchen sind. Der Begriff des Zwischenraums und das scheinbar neutrale Dazwischen werden meist synonym verwendet – ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen physikalisch messbaren Raum oder ein gedankliches Konstrukt, eine Metapher handelt, die die räumliche Vorstellung lediglich als Hilfskonstruktion verwendet. Die abstrakte Reflexion scheint auf diese lokalen oder im spezielleren Fall auch temporalen Beschreibungsmodelle angewiesen zu sein.

Das Dazwischen kann auf den unbesetzten Raum, ein Fehlen, eine Lücke gerichtet sein; es kann aber auch eine Grenze, einen Übergang benennen. Übergänge haben mit der Balance zwischen Chaos und Struktur in unserem Leben zu tun. Diese Balance gerät vorübergehend und mehr oder weniger intensiv aus den Fugen. Und das immer wieder. Denn jede Ordnung lebt von dem, was sie draußen lässt. Das erfahrene Chaos macht so das Entstehen einer neuen Ordnung möglich und einer neuen Balance zwischen Chaos und Struktur. Das Dazwischen setzt immer ein „Etwas“ voraus, das mit mindestens einem weiteren „Etwas“ in eine Beziehung gesetzt werden kann. Sobald man beginnt, das Dazwischen zu denken, kommt man nicht umhin, es selbst kategorial, beispielsweise als Leere, Lücke oder Relation, zu bestimmen.

Die Philosophiegeschichte ist über weite Strecken davon geprägt, Brüche und Störungen auszublenden, das diffuse Dazwischen zu disziplinieren oder gänzlich zu negieren. Die philosophische Begriffsgeschichte des Dazwischen beschreibt Michael Pfister als umfassende Exklusionsgeschichte: „Zwischen gehört nicht zu den Begriffen, die man in philosophischen Wörterbüchern findet. […] Der Anspruch der Philosophen geht meistens dahin, die bedrohlichen Zwischenräume zuzuschütten […].“ Diese Aussage ist sicherlich in ihrer Absolutheit zu kritisieren. Schließlich ist das philosophische Denken intensiv mit der Entwicklung und Veränderung von Ideen beschäftigt und hat stets den dialogischen Prozess der Bedeutungsgenese analysiert, sich stets gegen ein starres Denken gestemmt – von Platon bis zu den französischen Existentialisten und zur Postmoderne. Pfisters Behauptung betont die Sehnsucht nach Klarheit, nach kategorischem Wissen, nach einem Wissenssystem, das, wie der zurechtgestutzte und in Form gebrachte Baum des Wissens der Enzyklopädisten, uns Zugang zu Erkenntnis verschafft. Es ist der ewige Konflikt zwischen Ontologie und Epistemologie, zwischen Sein und Werden, zwischen Wissen und Unsicherheit, die den Menschen auf die Suche nach des Pudels Kern treibt. Entgegen der von Pfister betonten Entwicklung lässt sich also auch zeigen, dass das Dazwischen, gerade weil es bedrohlich auf die Grenzen philosophischer Erkenntnis verweist, zu den zentralen Problemen philosophischer Reflexion gehört. Der Ausschluss der Kategorie scheint zumindest langfristig zum Scheitern verurteilt. Immer wieder „schlagen die Zwischenräume zurück“ und bestimmen die Debatte vom Neuen.

„Zwischenräume“ scheinen die Signatur unserer Zeit zu sein. Das gesellschaftlich-politische Europa sieht sich in Zeiten der Globalisierung dem Gefühl des ständigen „zwischen nicht mehr und noch nicht“ ausgesetzt. Der Kalte Krieg ist zwar vorbei, doch auch wenn die neue Zeit nach dem Überwinden der Ost-West-Gegensätze in Europa relative Sicherheit gebar, so sind die Orientierungspunkte der europäischen Gesellschaften im Schwanken. Die sozialen Unruhen in Slowakei nach Absenken der Steuer auf ein Rekordminimum, die Demonstrationen gegen die Hartz IV-Reformen, die Niederlage der holländischen und französischen Regierungen: zeigen diese Beispiele Fälle von Regierungen, die gegen ihren Souverän – ihre Bürger – regieren? Wissen es die Regierenden besser? Sehen sie die Zwischenräume in denen sie sich befinden? Das Empfinden von Krise bestärkt das Gefühl, in einer Übergangszeit zu leben. Und die Debatten um Demographiewandel, Globalisierung, Energiekrise, und Terrorismus zeichnen ein Szenario, das den europäischen Demokratien Legitimation für Reformen en masse liefert. Wir müssen unsere Gesellschaft doch irgendwohin bewegen! Nur, wohin? Sind wir nicht vielleicht Zeugen einer typischen republikanischen, bzw. demokratischen Identitätskrise, die der Dauerzustand einer Republik ist, wie sie Jean-Francois Lyotard beschrieb? Woher kommen in Europa die Ideen, die ein neues Ziel definieren?

Im Bild des Europa-Hauses gesprochen befinden wir uns im Übergang, quasi auf dem Flur. Flure sind in der Regel nicht für längere Aufenthalte konzipiert, sie sind eher unwirtlich. Übergänge sind oft Krisenerfahrungen, Zeiten des Umbruchs, der Abschiede und der Neuorientierung. Übergänge können als Bedrohung erfahren, aber auch als Chance begriffen und ergriffen werden. Sie bedürfen behutsamer Begleitung. Es gibt intensiv erfahrene Übergangszeiten, individuelle, gesellschaftliche, politische und technologische Umbrüche. Andererseits ist Leben insgesamt Übergang, ständiges Weitergehen und Unterwegssein, Gehen ins Offene, Übergang in unverfügbare Zukunft.

Europa ist ein Kontinent der Zwischenräume. Wo es viele Nationen, Völker, Grenzen und Grenzüberschreitungen gibt, da gibt es auch viele Überschneidungszonen, Gebiete, in denen sich die Geschichten, Sprachen, Erinnerungen, die Verwandtschaftsbeziehungen, Identitäten, Mentalitäten und Animositäten überlagern, überlappen, miteinander verzahnen. Europa ist aber auch ein Kontinent vergessener Räume, von Gebieten, die zwischen die nationalen Erzählungen geraten und entweder ganz aus der erinnerten Geschichte verschwunden sind oder wo das Bewusstsein ihrer historischen Vielschichtigkeit verloren gegangen ist.

Europa ist der Kontinent der zielgerichteten Gesellschaftstheorie. Europa hat das Konzept von der Zukunft während der Aufklärung quasi erfunden. Die Idee des Fortschritts, die Idee einer Entwicklung hin zu Irgendetwas, meist etwas, was viel besser ist als heute, umfasst alle Lebensbereiche und ist als Legitimationsgrundlage politischen Handelns in Europa eigentlich nicht mehr wegzudenken. Selbst die Musik in Europa entwickelte die zeitliche Dramatik hin zu einem Finale. Aufgeteilt in mehrere Akte, Themen verfolgend und vereinend spiegelt sie ein Vorstellungskonzept wider. Bei der Jagd nach der Zukunft schlagen Zwischenräume immer wieder zurück, als Argumente, Ideen, Innovationen, die Gesellschaften einem stetigen Veränderungsprozess unterwerfen. Diesen Prozess mit der Haltung von Franz Beckenbauers ‚Schau’n mer mal’ anzugehen ist dabei auf jeden Fall vorteilhafter als der Ruf nach Innovations- und Veränderungsdruck oder -zwang oder einer vermeintlichen Behinderung des Fortschritts durch stets neu imaginierte Objekte und Subjekte. Brücken, die halten, werden gut geplant und mit Respekt vor der Statik gebaut.

OHNE ZWISCHENRAUM KEINE SEHNSUCHT!
Die Anziehungskraft, die Grenzerfahrungen, Zwischenräume, Lücken und Brüche auf Künstler und Autoren der verschiedensten Epochen ausgeübt haben – und weiterhin ausüben-, verweist auf die Doppelgesichtigkeit der Kategorie des Zwischenraums. Das Dazwischen einfach nur als unbewältigte Herausforderung, als bedrohliche, unbekannte Größe zu charakterisieren, würde eine Verkürzung bedeuten. Sie steht auch für den Reiz des Unbekannten, unbegrenzter Möglichkeiten und unerfüllter Wünsche (vgl. Sombroek 2005: 27):“Ohne Zwischenraum keine Sehnsucht! Darauf beruhen letztlich die Formen unserer listen- und lastenreichen Varianten der Zähl- und Erzählweisen.“

Georg Christoph Tholen beschreibet in seinem Aufsatz: Zwischenräume –Der Ort der Medien und die Frage nach der Kunst einige Phänomene des intermedialen Zwischenraums, für die es in der Medienforschung heuristische Begriffe gibt: Hybridität, Performativität, Interaktivität. Im metaphorischen Sinne heißt hybrid: unrein, überheblich, maßlos. In der Pflanzen- und Tierzüchtung sind Hybride Nachkommen, die aus einer künstlichen Kombination von Eigenschaften hervorgehen, die vorher selbständig waren. Tomoffel, das Dritte aus Tomate und Kartoffel: ein harmloses Beispiel der gentechnischen Manipulation. Das Übertragen auf das Feld der modernen Medienkultur bedeutet ‘Hybridisierung‘ und hat doch mit der Kombination von Medien zu tun. Das Hybride, Interferierende ist seit etwa zwei Jahrzehnten die kulturelle Signatur unserer Zeit: Cross-Over in Mode, Musik, Literatur, Performance- und Intermedia-Kunst, Infotainment, Edutainment. Der Begriff des Hybriden ist bewusst unscharf und hat mit der Digitalisierung der Medien zu tun. Er bedeutet: Verkreuzung und Interferenz von vormals getrennten Codes – ähnlich wie Michail Bachtin von einer Vermischung sozialer Sprachen sprach, die sich unabsichtlich oder absichtlich vollzieht und – als künstlerische Strategie – ironisch, parodistisch, karnevalesk verfährt.

Durch stets wandelnde Interpretationen und neue Sinnkonstruktionen werden auch Bedeutungswelten Veränderungen unterzogen, unsere Sehnsüchte verändern sich, unsere Ziele verändern sich, unsere Begründungen verändern sich. Sich den Zwischenräumen nicht zu stellen ist eigentlich unmöglich oder nur mit einer gehörigen Portion Scheuklappenhaftigkeit oder felsenfester Dickköpfigkeit zu bewerkstelligen.

WIR SIND ZWISCHENRÄUME?
Das Motiv des „Zwischen“ tritt in dieser Zeit der Jahrtausendwende in besonderer Weise ins Bewusstsein. Trotz der Erfolge verschiedener Genomprojekte sind die Lebenswissenschaften von einer erschöpfenden Beantwortung zell- und molekularbiologischer Fragestellungen weit entfernt. Nach der Aufklärung von verschiedenen Zell-Zuständen steht nun die Analyse von Zell-Dynamiken und Zell-Zell-Interaktionen im Mittelpunkt des Interesses. In seinem 2004 erschienene Buch Das Netz der Persönlichkeit schreibt der New Yorker Neurologe Joseph LeDoux gleich in der ersten Zeile: Wir sind unsere Synapsen. Synapsen sind die Zwischenräume zwischen Hirnzellen, mittels deren diese Zellen kommunizieren. Wir wären also Zwischenräume?

 

 

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