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Am 26. Oktober 2006 verstaltete das FORUM46 den V. Interdisziplinären
Salon für Europa in Kooperation mit der SAP. Unser Thema in der
Berliner Repräsentanz des Unternehmens war:

QUALITÄT

Persil. Picasso. Patentrecht.

 

Die Diskussionsrunde

PD Dr. Martina Sitte
Hamburger Kunsthalle, Galerie Alte Meister

Dr. Med. Peter Langkafel
SAP Deutschland AG & Co. KG

Krzysztof Niewsrzeda
polnischer Schriftsteller

Dr. Hans-Ulrich Mittmann
Bundesanstalt für Materialforschung, BAM

 

Moderation

Dariusz Radtke
FORUM46 - Interdisziplinäres Forum für Europa e.V.

 

Leitfragen

Was sind die Voraussetzungen für Qualitätsentwicklung? Welcher Wertmaßstab liegt dem Begriff „Qualität“ zugrunde? Was ist das Grundprinzip der Qualitätserzeugung? Erdrücken Normen und Erwartungen die Kreativität?

 

Publikation zum Thema

Vertiefen Sie das Salonthema anhand von Essays, Reportagen und Tipps
aus unserem Magazin >>> E.I.Q. Qualität

Autoren der Ausgabe sind u.a.:

Wolf Lotter, Krzysztof Niewrzeda, Anna Krenz, Hans-Ulrich Mittmann, Michal Grajek, Ernst-Ludwig Winnacker, Dan Sperber, Peter Matussek, Imke Girssmann, Christoph Herrman, Jan Sokol, Timothy Garton Ash, Lopez Mausere (Wojciech Stamm), Peter Reik, Fra Angelico, Hagen Schulz-Forberg

 

Der dritte Hauptsatz der dynamischen Qualität

von Peter Lau

Die Qualität schien uns anfangs zugänglich. Genau genommen sogar ganz einfach, denn jeder, wirklich jeder hatte dazu eine Meinung. Wir fragten zehn Leute auf der Straße: „Was ist Qualität?“, und jeder wusste es.

Nur wurden sie sich nicht einig:

„Persil“, „Picasso“, „Patentrecht“.

Das brachte Verdruss, keine neuen Erkenntnisse und Freunde, auf die wir lieber verzichtet hätten. Qualität war das wohl nicht. Und so beschlossen wir, es anders zu versuchen.

Überleben

Über Naturgesetze kann man nicht diskutieren. Die Erdanziehung ist die Erdanziehung, ein Mensch braucht Vitamine und Mineralstoffe, Wasser ist die Grundlage allen Seins. Früher war die Frage nach Qualität eine Frage des Überlebens: die gute Beere, lecker und wohl bekömmlich, die schlechte Beere, bitter, der Mensch kippt um und ist tot. Dito der gute Bär, erschlagen, gehäutet und verspeist in der Gruppe, der schlechte Bär, zehn Meter hoch und verärgert.
Dem Jagen und Sammeln folgte der Ackerbau, die Lagerhaltung, die Drei-Felder-Wirtschaft. Gut war, was dem Morgen-noch-da-Sein diente.
Ebenso in der Technik: Der Keil, der Hebel, das Rad, die geneigte Ebene sowie Rolle und Flaschenzug folgten den schlichten Regeln der Mechanik. Und daran änderte sich Jahrtausende nichts. Sokrates behauptete, dass die Schönheit eines Dinges in seiner Nützlichkeit läge. Ein verzierter Gegenstand, der wegen seiner Verzierungen schlechter zu gebrauchen sei, sei deshalb weniger schön als die nüchterne, aber nützliche Sache.

Form Follows Function, da lacht der Designer. Die Qualität jedenfalls war absolut, ihr einziger Maßstab war der Graben zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Welt, ihren nicht zu ändernden Regeln. Alles, was diesen Graben verkleinerte, war von Qualität.

Und das ist so geblieben: Das eine Gemüse hat mehr Nähr- und weniger Giftstoffe als das andere, Stahl ist haltbarer als Zinn, Kupfer leitet Strom besser als Dung. Prima Uhr, geht nie falsch, ist eben Qualität. Prima Geldschrank. Prima Banane, schmeckt gut, auch das gehört dazu, denn der Körper empfindet als angenehm, was er für seine Erhaltung braucht.

Der erste Hauptsatz der dynamischen Qualität steht am Ende des Pavillons an der Wand: Wenn es um das reine Material geht, ist die Qualität absolut.

Draußen erwartet uns der Standard, er lächelt grau, „hat es Ihnen gefallen?“ Wir lügen, „echt super!“ Es regnet. Schweigend und unentschlossen stehen wir im Matsch. Niemand hat einen Regenschirm dabei. Der graue Anzug des grauen Mannes beginnt sich langsam in eine Art Lappen zu verwandeln, etwas, das auf der Spüle liegt und vielleicht mal weggeworfen werden muss. Schließlich ein Räuspern: „Na ja“, sagt er, „Sie können sich einen weiteren Pavillon ansehen, er ist noch im Bau, aber man bekommt bereits einen Eindruck.“ Er führt uns zu einer Art überdimensionalem Bungalow, ein flacher Kasten, der aussieht, als würde sich kein böser Wolf der Welt die Mühe machen, ihn wegzupusten. Über dem Eingang hat jemand mit schwarzer Tusche gemalt: Leben

Die Zivilisation schreitet voran und mit ihr die Probleme. Aus Stämmen werden Völker, aus Siedlungen Städte, aus Regeln Gesetze. Das Muster des Fortschritts ist vorerst immer gleich: Ein Problem wird erkannt, eine Lösung gefunden, dann mehrere, die nützlichste ist die mit der höchsten Qualität. In Folge der besseren Versorgung entwickelt sich jedoch immer stärker die subjektive Qualität: Ich mag lieber Reis (Marco Polo) oder Kartoffeln (Kolumbus). Das ist nicht neu, in allen Zivilisationen gönnt sich die vom Kampf ums Überleben entlastete Oberschicht ihre kleinen Freuden subjektiver Qualität, ihre feine Dekadenz. Wir zünden Rom an oder lassen uns im Dezember Erdbeeren kommen. Im Wohlstand der aufkeimenden Industriegesellschaft wird das Phänomen jedoch zusehends zu einer Massenbewegung, die einem immer unübersichtlicher werdenden Angebot an Konsumartikeln gegenübersteht.

Da entsteht die Marke.

Die Marke ist ursprünglich ein Synonym für objektive Qualität. Odol, einer der ersten Markenartikel Deutschlands, das Zahnöl (odous, Zahn; oleum, Öl), gilt als zu kompliziert, um es dem einfachen Konsumenten zu erklären. So legt der Erfinder Karl August Lingner großen Wert auf das Design des Produkts, die Wiedererkennbarkeit, die so genannten Markenwerte – und setzt damit nicht nur einen Meilenstein für das Marketing, sondern popularisiert auch die Mundpflege. Eine reale Lösung für ein reales Problem, verkauft über die fiktive Größe der Marke.
Doch es bleibt nicht dabei. Die Marken machen sich selbstständig, sie verkaufen sich zunehmend selbst.

Die Probleme, die sie lösen, sind die, die sie schaffen.

Haben und Sein werden eins. Und das Sein ist nun auch relativ. Wer nicht überleben muss, braucht nur noch zu leben und hat Zeit, sich zu streiten, über Kunst und Kängurufleisch, richtiges und falsches Aussehen, Apple oder Microsoft.

Es gibt Dinge, über die streitet niemand: Mord etwa, der ist verboten und bleibt es, oder Statik, dass die Häuser nicht gleich umkippen, über Normen, die Grundlagen der Qualität, vielleicht sogar der Zivilisation und darüber, dass man essen muss, weil man sonst stirbt. Aber wer besser ist, die Beatles oder die Stones, das ist ein fettes Thema und sehr relativ. Der zweite Hauptsatz der qualitativen Dynamik lautet folgerichtig:

Die Relativität der Qualität nimmt proportional zur Entbehrlichkeit ihres Objekts zu.

Wir stehen wieder im Regen. Der Standard ist nirgends zu sehen, er hat sich wohl untergestellt. Ist ihm nicht zu verdenken. Der Matsch ist jetzt schon knöcheltief. Einen Erlebnispark der Qualität hatten wir uns anders vorgestellt. Irgendwie besser. Ein Weg ist in der Schlammwüste nicht zu erkennen. Etwas unscharf erhebt sich im Hintergrund eine Art Haufen. Wir gehen darauf zu, es ist ein Gebäude, vielleicht moderne Architektur, vielleicht ist es aber auch kürzlich zusammengebrochen. Über dem Loch, das wohl ein Eingang sein soll, hängt ein Stück nasse Pappe, auf dem mit grünem Filzstift geschrieben steht: Besser leben.

Drinnen ist es dunkel. Wir könnten jetzt einen Lichtschalter suchen, aber das müssen wir nicht, denn plötzlich flammt ein einzelner Scheinwerfer auf. Eine ältere Frau kommt auf uns zu. Sie ist etwas blass, nicht besonders groß, ihre Kleidung ist schmuddelig. Sie schaut uns trübe an, dann murmelt sie: „Sie interessieren sich wohl für Qualität, was? Sie sind doch von gestern, Sie haben nicht mehr alle beisammen. Alles ist Qualität, ich bin Qualität. Sehen Sie doch raus, ist doch schön, oder? Und den Matsch da draußen, den kann man essen, was?“ Hinter uns ein Geräusch, wir drehen uns um, da steht der Standard, in seinem nassen Anzug. Er zittert. „Mutter?“
Dies ist der Moment, an dem die Musik anschwillt, das Orchester erbebt, es ist das Finale. Und die kleine Frau, sie ist tatsächlich die Qualität, beginnt ihre Arie. Sie spricht laut, böse, sie sagt:
„Qualität braucht die Möglichkeit der Wahl. Wenn es keine Alternative gibt, gibt es auch keine Qualität: Atome sind Atome, da gibt es nichts zu diskutieren. Aber Qualität braucht auch einen Wert. Für Erbsen zum Beispiel. Aschenputtel sortierte das Gemüse, die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Später verlor sie ihren Schuh, der Prinz suchte sie, er hatte die Frage der Qualität für sich beantwortet. Doch die Schwestern, die versuchten, ihn zu betrügen, die sich die Fersen abschnitten, um in den Schuh zu passen, begriffen es nicht. Sie verstanden nicht, dass es nicht der Schuh war, um den es ging, sondern der Fuß.

Das war die Welt, in der ich tatsächlich etwas bedeutete. Das war vorgestern.
Seit gestern herrscht die schnelle Zeit. Alles passiert gleichzeitig, alles ist eins, keines ist wichtiger als das andere, alles ist relativ. Der Philosoph Bertrand Russel schrieb, es sei Unfug zu sagen, alles sei relativ, denn wenn alles relativ wäre, gäbe es nichts, wozu es relativ sein könnte. Aber das hat niemanden interessiert. War vielleicht nicht schnell genug. Jedenfalls hält man mich nun auch für relativ. Mich! Sehe ich vielleicht relativ aus?
Immerhin, ich bin in aller Munde. Bekannt durch Qualität! Qualität ist unsere Aufgabe! Qualität ist unser Leben! Qualität entscheidet! Das ist Qualität! Und natürlich stimmt es jedes Mal. Denn wenn alles relativ ist, ist logischerweise alles Qualität, irgendwie jedenfalls. Jemand kann ein Hemd verkaufen, das nach dreimal waschen auseinander fällt. Aber was soll’s, es hat so wenig gekostet, und der Käufer wusste, dass es nicht halten würde – das ist auch Qualität, da steht einfach ein anderer Anspruch hinter, ein schnelles Stück Stoff für ein schnelles Leben. Darum geht es doch, oder? Um die Freiheit. Die Freiheit der Wahl. Als wäre das schon ein Wert an sich. Als wäre das bereits Qualität.“
Die kleine, verbitterte Frau greift sich ein Bierfass, das auf dem Fußboden steht. Sie nimmt einen mächtigen Schluck daraus, wischt sich mit dem Handrücken über den Mund, starrt uns misstrauisch an und fährt dann fort:

„Da gab es mal die Biologie, die ist abgeschafft. Der Mensch hatte gelernt, dass der Geschmack einer Sache mit ihrem Wert verbunden war, aber das ist abgeschafft. Dank künstlicher Geschmacksstoffe. Hurra! Was für eine großartige Scheiße.“

Sie nimmt einen Schluck aus dem Fass, sie wird lauter. „Da gab es mal die Physik, die ist abgeschafft. Der Mensch, der etwas herstellte, ein Einzelstück, in mühseliger Kleinarbeit, der Materie abgerungen, etwas Besonderes für einen besonderen Menschen, das ist abgeschafft. Dank der Massenproduktion. Hurra! Was für eine fantastische Scheiße.“ Sie nimmt einen Schluck aus dem Fass. Und brüllt.

„Da gab es mal den Menschen, der ist abgeschafft. Der Mensch, der sich von anderen unterschied, nicht dadurch, dass er anders aussah oder etwas Besonderes tat, sondern allein dadurch, dass er einen eigenen Wert hatte, dass er unersetzlich war, einmalig, eine Qualität jenseits der Worte, der ist abgeschafft. Dank der Logos, dank der Produkte, dank der Lügen und der Helden, die so viel besser sind als alles, was jemals irgendjemand sein kann, dank Brad Pitt und Julia Roberts, dank Nike und McDonald’s. Hurra! Was für eine riesengroße kapitale Scheiße.“

Einen Moment herrscht Stille. Dann spricht die kleine Frau weiter, leise, zischend. „Aber das ist alles gelogen. Die Biologie bleibt die Biologie. Die Physik bleibt die Physik. Und der Mensch? Ist entbehrlich?“ Noch ein Schluck aus dem Fass, der letzte, es ist leer und landet scheppernd in den Kulissen. „Seitdem das Wort Glück abgeschafft worden ist, wegen, na, ist doch klar, wegen Undurchführbarkeit, ist die Qualität auch in diesem Segment des Marktes vertreten. Die Lebensqualität kann man messen, die errechnet sich aus der Zahl der freien Arbeitsplätze mal der Zahl der Kinos, geteilt durch die Zahl der freien Wohnungen. Single-Wohnungen versteht sich. Ist das nicht schön?“ Sie grinst.

„Und dann gehen wir einkaufen. Wir kaufen den handgeschöpften Käse aus der Lombardei, die Fassbutter aus dem Tessin, diese feinen Brüsseler Herrenschuhe, dieses süße Täschchen aus Spanien.

Wir gehen uns übergeben vor dem großen Spiegel bei Prada und dann weiter shoppen, die limitierte Auflage von Adidas, die muss es sein, und die Pralinen bei Godiva. Nur die feinste Qualität. Aber wieso macht uns das alles nicht glücklich?“
Sie sieht sich um, holt tief Luft. „Tja, das liegt am dritten Hauptsatz der dynamischen Qualität:

Qualität ist unteilbar.

Qualität braucht Zeit und Wahl. Die Zeit, die sich jemand für die einzelnen Dinge nimmt, ist die Zeit, die er sich für sich selbst nimmt und für die anderen, nicht nur für die Dinge, auch für die Menschen. Die Sorgfalt, die jemand bei der Auswahl zeigt, ist die Sorgfalt, mit der er seine Lebenswahl trifft. Unterscheiden, klar. Aber dann auch entscheiden, einmal, nicht immer wieder. Reichtum durch Verzicht. Tun, was zu tun ist, als gäbe es ein Naturgesetz, über das man nicht diskutieren kann. Und vielleicht kann man es tatsächlich nicht? Das ist die Qualität hinter der Qualität. Der Moment, in dem die Masse verschwindet, in dem die Freiheit der Wahl zur Freiheit wird, nicht zu wählen. Weil schon gewählt ist.“
Sie lächelt, zum ersten Mal lächelt sie wirklich, weich und warm. Dann ist es still. Als sie weiterspricht, ist es, als wenn niemand etwas sagt: „Da ist dieser Kerl, er ist einfach da, er sitzt in der Ecke, er liegt auf dem Rasen, er steht hinter einem Baum. Er hat, was er braucht, denn er hat sich entschieden. Er will nichts weiter, als dich lächeln zu sehen. Nur dies zu wollen ist für ihn bereits das Glück. Doch es ist bloß der Anfang. Denn dann lächelst du. Und es ist weit jenseits von allem, was er sich vorstellen konnte.“
Dann sagt sie nichts mehr. Sie dreht sich bloß um, der Scheinwerfer schwenkt herum. Hinter ihr, auf die Wand, ist mit nasser roter Farbe gemalt:

Alles, was ich will, ist, dich lächeln zu
sehen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und der brand eins Redaktion.

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